Engagement für eine tolerante Kirche
Kirche | Andreas Zeller ist promovierter Theologe, Pfarrer und Alt-Synodalratspräsident der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Er wohnt seit Jahrzehnten in Münsingen, wo er auch Pfarrer war, und hat ein Buch über die bernische Kirchenpolitik verfasst.
«Es war wie das Schauen in einen Spiegel der eigenen beruflichen Tätigkeit und das Sich-Bewusstwerden über gros-se Veränderungen in Kirche und Gesellschaft», schreibt Andreas Zeller aus Münsingen in seinem Buch über die Liberalen in der reformierten Berner Kirche. Die Reformierte Berner Landeskirche hat genauso wie staatliche Strukturen ein Parlament, die Synode. Die Synode hat rund 200 Mitglieder, entscheidet über wichtige Geschäfte wie Budget oder Jahresrechnung und wählt die Exekutive. Die Exekutive ist der Synodalrat, der aus sieben Mitgliedern besteht und am ehesten mit dem Berner Regierungsrat verglichen werden kann. Die Synodalräte leiten die unterschiedlichen Departemente im Verwaltungsapparat. Die Mitglieder der Synode, die Synodalen, sind in sechs Fraktionen organisiert, die unterschiedliche theologische und kirchenpolitische Positionen vertreten. Die Fraktionen sprechen sich ähnlich wie Parteien vor den Sessionen zu den jeweiligen Geschäften ab und tragen so Entscheidendes zur innerkirchlichen Meinungsbildung bei. Die sechs Fraktionen sind die kirchliche Mitte, die Positiven, die Unabhängigen, die Gruppe Offene Synode, die Liberalen und die jurassische Fraktion. Die liberale Fraktion orientiert sich per Definition wie die liberale Theologie am «Gedankengut der Aufklärung». Sie tritt gemäss Eigendeklaration ein für eine offene, demokratische Volkskirche mit Platz für unterschiedliche Glaubensauffassungen. Die Liberalen vertreten also eine sehr offene Theologie und Kirchenpolitik, die unterschiedlichen Meinungen Platz lässt. Die Liberalen haben sich immer bemüht, ihre Haltung gegenüber neuen Entwicklungen und dem aktuellen Weltgeschehen zu finden. «Dabei suchten liberale Theologinnen und Theologen bewusst auch die Nähe zu anderen Wissensgebieten. Es ging darum, die liberale Theologie als wichtigen Bestandteil für ein gelingendes Zusammenleben in der Gesellschaft zu sehen und Offenheit und Toleranz zu leben.» So beschreibt es Andreas Zeller in seinem Buch mit dem Titel «Auf das Wesentliche reduziert», das nächsten Monat im Theologischen Verlag Zürich erscheint.
Pfarrer in Münsingen
Andreas Zeller kam schon früh mit dem liberalen theologischen Gedankengut in Berührung. Als zweiter von drei Söhnen wuchs er Ende der 50er-Jahre in Ausserholligen auf. Das Quartier boomte und war äusserst lebendig. «Es hat mich für das Leben geprägt», sagt Andreas Zeller. Die reformierte Friedenskirchgemeinde war ein wichtiger Bestandteil des Quartierlebens. Dies auch mit verschiedenen Freizeitangeboten, die in den 60er- und 70er-Jahren gemäss Andreas Zeller noch «konkurrenzlos» gewesen seien: «Man ging hin, weil alle hingingen.» Nicht primär aus Interesse an der Kirche, sondern aus Neugier und um Gleichaltrige zu treffen. Es war ein liberaler Pfarrer, der damals die Jugendarbeit im Quartier aufgebaut hatte. Die Jugendgruppe wurde von einer Person geleitet, die später schweizweite Bekanntheit erreichte: Es war der spätere «Mister Glückskette» Roland Jeanneret. Er organisierte damals beliebte Jugendtanzpartys und zog später als jüngstes Mitglied in den Kirchgemeinderat der Friedenskirche ein. Für die Tanzpartys habe man bis auf die Strasse Schlange stehen müssen. An einer solchen Party lernte Andreas Zeller seine spätere Frau Rosalia kennen. Zudem wurde er so auf «natürliche» Weise kirchlich sozialisiert. Schon vor dem Theologiestudium hat er sich für die liberale Haltung entschieden. Dies, weil ihn einerseits einzelne Vertreter davon überzeugt haben, andererseits weil diese Haltung seinem eigenen Gedankengut am nächsten kam. Während des Studiums schloss sich Andreas Zeller vollends dieser Strömung an und suchte die Nähe zu Kommilitonen und Theologen, welche diese Strömung vertraten.
Nach dem Theologiestudium war Andreas Zeller zuerst Pfarrer in Flamatt – «in der Diaspora» – und später während 20 Jahren in Münsingen, wo er mit seiner Frau heute noch lebt. Er ist jemand, der die Menschen mag und in seinem Pfarramt sichtlich aufging. So freut er sich heute noch, wenn er beim Einkaufen im Dorf Paare trifft, die er mal getraut hat, oder Personen, die bei ihm im Konfirmationsunterricht waren. Auch als späterer Synodalrat und Synodalratspräsident hat er sich immer dafür interessiert, was in den Kirchgemeinden passiert, besonders auch in jenen auf dem Land.
Seine Karriere als Kirchenpolitiker in der Exekutive nahm 1998 ihren Lauf, als er von der liberalen Fraktion angefragt wurde, ob er für einen Sitz im Synodalrat kandidieren wolle. Von 1999 bis 2007 amtete er nebst dem Pfarramt als Synodalrat in Teilzeit. Als solcher leitete er zuerst das Departement «Zentrale Dienste» (Administration), später dann das Departement Theologie, das er selbst aufgebaut hatte. Im Oktober 2007 trat er schliesslich das Amt des Präsidenten des Synodalrats an. Dies ist ein Vollzeitamt, das viel Engagement, zeitliche Flexibilität, (kirchen)politisches Gespür, Führungsqualitäten und Menschenkenntnis erfordert. Ein Amt, das Andreas Zeller problemlos ausfüllte. Der Schreibende hat ihn während seiner letzten Jahre im Amt als Mitarbeitender des «Stabes» bis zu seiner Pensionierung erlebt. Er war ein Chef, der immer klar kommunizierte, der andere Meinungen aber auch gelten lassen und Hinweise von Fachleuten annehmen konnte. Er hatte was von einem «Patron» der alten Schule. Das war jener Schlag von Chefs, die sich für die Mitarbeitenden interessierten und sich um deren Wohlergehen sorgten. Egal ob Sekretärin oder Cheftheologe. Auch dies zeugt von seiner tief im Innern verwurzelten liberalen Haltung.
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Andreas Zeller hat aber auch eine durchaus staatsmännische Seite. So bewegte er sich stets mit Geschick auf der politischen Bühne. Inner- wie ausserkirchlich wusste er die richtigen Allianzen zu schmieden und im Interesse der reformierten Landeskirche zu verhandeln. Und: Er liebt den öffentlichen Auftritt. Eigenschaften, die ihm bei der Verhandlung über das neue Landeskirchengesetz halfen. Die Einführung eines neuen Gesetzes für die drei Landeskirchen im Kanton Bern war einer der Meilensteine während seiner Amtszeit. Es ging um mehr Distanz zwischen Kirche und Staat, der vor dem neuen Gesetz von 2017 noch die Pfarrpersonen per Direktzahlung entlöhnte. Diese Anstellungsverhältnisse sollten nun an die Kirche übergehen. Für die Kirchen ging es vor allem darum, ein für die Zukunft verlässliches Finanzierungsmodell auszuhandeln. Man einigte sich auf einen Sockelbeitrag des Staates an die Kirchen, der die Löhne der Pfarrpersonen decken soll, und auf einen alle sechs Jahre neu zu verhandelnden Beitrag für die Leistungen der Kirchen im gesamtgesellschaftlichen Interesse. In dieser Zeit sah man Andreas Zeller oft mit seinem «Gegenspieler» Regierungsrat Christoph Neuhaus in den Medien. Und hätte man es nicht besser gewusst, so hätte man teilweise annehmen können, die beiden seien alte Kumpels: der «Kirchenfürst» und der «Vollblutpolitiker».
Das neue Landeskirchengesetz war nur ein Meilenstein in Andreas Zellers Amtszeit. Innerhalb der Kirche wirkte er insofern integrativ, als unter seiner Führung die verschiedenen Verwaltungseinheiten unter einem Dach vereint wurden. Diese waren bis dahin noch an unterschiedlichen Standorten in der ganzen Stadt Bern verteilt. Nach einem langen Verhandlungsprozess und zwei Jahren Bauzeit konnte 2012 das «Haus der Kirche» im Altenberg an der Aare bezogen werden. So entstand eine schlagkräftige Zentralverwaltung mit sechs Departementen sowie einer Kirchenkanzlei, einem Rechtdienst und einem Kommunikationsdienst als «Stab» des Präsidiums und des Synodalrates. Zudem wirkte er an der Verfassung einer Evangelischen Kirche Schweiz mit. Der ehemalige Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK, ein Zusammenschluss der verschiedenen evangelischen Schweizer Kantonalkirchen, sollte in eine evangelische Schweizer Kirche mit einer eigenen Synode überführt werden. 2020 wurde die entsprechende Verfassung angenommen, die Evangelische Kirche Schweiz EKS war aus der Taufe gehoben.
Andreas Zeller sieht die zentrale Aufgabe der Kirche in unserer Gesellschaft darin, «die Menschen im Lichte des Evangeliums zu begleiten». Doch er hat durchaus auch «weltliche» Interessen. So ist er ein grosser Fan der «Rolling Stones», von denen er bereits sieben Konzerte besucht hat, und der American Outlaws. Er spielte in verschiedenen Lehrer- und Schülerbands Hammondorgel, Gitarre und Bassgitarre. Hobbys, die während der langen Amtszeit wohl etwas gelitten haben und nun, nach der Pensionierung von 2020 und nach Veröffentlichung des Buches zur Kirchengeschichte, wieder aktuell werden könnten. Rock und Religion? Was auf den ersten Blick nicht zusammenpasst, passt auf den zweiten Blick eben doch: Auch als Kirchenfunktionär setzte sich Andreas Zeller immer dafür ein, dass die Kirche in einer zunehmend säkularisierten Welt ein eigenes Profil zeigt.
Beitrag zur Kirchengeschichte
Im jungen schweizerischen Bundesstaat waren es die kirchlich Liberalen, die wesentlich daran beteiligt waren, dass der Artikel zur Glaubensfreiheit in der Bundesverfassung von 1874 angenommen wurde. Sie trugen damit zum Religionsfrieden bei und förderten den aufgeklärten, historisch-kritischen Umgang mit Bibel und Tradition. Dabei suchten liberale Theologinnen und Theologen immer wieder die Nähe zu anderen Wissensgebieten. In Offenheit und Toleranz wollten sie einen Beitrag leisten für ein gelingendes Zusammenleben in der Gesellschaft, zum Beispiel in der Förderung des interreligiösen Dialogs.
Engagiert und detailliert entfaltet Andreas Zeller die Geschichte der kirchlich Liberalen in der reformierten Kirche im Kanton Bern mit Schwerpunkt auf den letzten 40 Jahren. Er stellt prägende Personen, wegweisende Auseinandersetzungen und wichtige Institutionen vor. Ein Blick zurück und zugleich ein Blick voraus, der das Motto der Liberalen konkret werden lässt: liberal – reformiert – offen.
«Auf das Wesentliche reduziert – Die Liberalen in der reformierten Berner Kirche 1981–2021», Andreas Zeller, Theologischer Verlag Zürich 2024, 434 Seiten, ISBN 978-3-290-18612-8, ca. 48 Franken.
pd