«Mi hett halt nid gredt»
Verdingt, Folge 2 • Alfred Ryter wurde als Kind verdingt. Was er ertragen musste, ist unerträglich. «Im Päckli ischt es Chueli gsi. Das hanni no hüt. I ha ds erschte Mau i mim Läbe öppis gschänkt übercho. Drum hanni so briegget (geweint). Vor Fröid. I ha nie meh im Läbe so briegget wie denn.»

«Bitte schreiben Sie unbedingt, dass es nicht die Schuld meines Vaters war, dass er mich wegbrachte, sondern jene der Gemeinde, die ihn nicht unterstützen wollte», sagt Alfred Ryter. «Meine Eltern waren gute Menschen.» Zur Erklärung: Verdingkinder wurden den Eltern (von 1800 bis in die 1960er-Jahre) meist von den Behörden weggenommen. Den Zuspruch bekamen jene, die für das Kind am wenigsten Kostgeld verlangten. Dadurch kosteten sie für die Gemeinde am wenigsten. Verdingkinder wurden oft wie Sklaven behandelt und für Zwangsarbeit ohne Lohn eingesetzt. Sie wurden häufig ausgebeutet, erniedrigt oder vergewaltigt, einige kamen ums Leben.
Fortsetzung: Man brachte Fred wieder weg. Nach Heustrich, Wimmis, zu einem jähzornigen Bauer. «Er hett mi bständig gschlage.» Immerhin hatte er genug zu essen, durfte am selben Tisch essen wie die Meistersleute und im Haus schlafen. Dort blieb Fred ein Jahr lang. Dann kam die Mutter heim. Er durfte heim. Daran, wie sich das anfühlte, erinnert er sich nicht. Zu tief waren die Wunden. Daheim fühlte sich Fred nie mehr ganz. Nach zwei Jahren wurde die Mutter erneut krank. Fred musste weg, kam nach Aris, Gemeinde Reichenbach. Wieder hiess es: «Wärche, wärche, wärche. Die Frau aus Frutigen war haargenau gleich wie jene, am ersten Platz, die mich so quälte», so Ryter. Doch der Mann setzte sich für den Jungen mit den Worten ein: «Hier wird kein Kind geschlagen. Und gib dem Bub genug zu essen!» Dort erhielt Fred an Weihnachten zum ersten Mal in seinem Leben ein Geschenk. «Im Päckli ischt es Holz-Chueli gsi, e Läbchueche und es paar Socke.» Die Kuh hat er noch heute. «Das Chueli isch heilig für mi. Es hett e Ehreplatz hie im Huus übercho.» Er habe so geweint damals. Doch diesmal vor Freude. «I ha nie meh im Läbe so briegget wie denn.» Denn zum ersten Mal habe er eine Art Liebe spüren dürfen.
Konsequenz einer schlimmen Kindheit
Eine Anekdote aus der Schulzeit: «Ich hatte öfter beobachtet, dass mein Lehrer im Schrank eine Flasche Wein aufbewahrte und ab und zu heimlich einen Schluck daraus nahm. Als er mir wieder und wieder verbot, in die Pause zu gehen, und mich allein im Schulzimmer zurückliess, nahm ich die Flasche – und pinkelte hinein. So, damit er es nicht merkte. Das war meine Rache für das Leid, das er mir zufügte.»
Als die Mutter wieder daheim war, durfte Fred schliesslich heim. Doch er hatte keine Beziehung mehr zu den Eltern. «Der Vater war für mich irgendwie der Täter, obwohl es ja nicht seine Schuld war …» Als Fred schliesslich aus der Schule kam, die er kaum besucht hatte, schickte man ihn ins «Wälsche». «Ich hatte es auch dort nicht einfach. Diesmal lag es an mir: Ich war Bettnässer. Noch mit 16 Jahren …» Die Konsequenz einer furchtbaren Kindheit in Angst und Schrecken. Im Sommer konnte man die Bettwäsche nach dem Waschen einfach raushängen. «Doch im Winter wurde es ein Problem, so verjagten sie mich.» Zwar halfen sie Fred, einen anderen Platz zu finden. Doch auch dort blieb er der Knecht und weil alle Deutsch sprachen, lernte er kein Französisch. Und dann kam der Moment, in dem sich sein ältester Bruder, Hans, das Leben nahm. «Ich wurde zum Rebellen.» Von diesem Moment an sagte Fred, was er dachte. Und dies beinhaltete auch, dass er Kraftausdrücke benutzte. «So jagten sie mich auch von diesem Ort fort.» Und so ging es weiter: Überall, wo er eine Stelle annahm, ob in Frutigen, Kandergrund, Reichenbach, behielten sie ihn nicht lange. «Ich war zu aufmüpfig.» Niemand fragte, niemand schaute hinter die Fassade des vom Leben geplagten jungen Mannes. Sein Vater konnte nicht begreifen, dass sein Sohn «so» war. Er selbst arbeitete über Jahre für denselben Arbeitgeber. «Doch er wusste ja nicht, was ich als Kind erlebt hatte. Ich sagte es ihm nie. Mi hett halt nid gredt.» Freds Schwester lebte mit ihrer Familie in Luzern. Er ging zu ihr. «Doch sie hatte drei Kinder, eine Miniwohnung und einen Mann, der sie schlug. Sie litt selbst genug, so blieb ich nicht lange.»
Das ist, was ich war
«Ob ich für einige Zeit ein Zimmer fand oder nicht, ob ich zu essen hatte oder nicht: Nichts ging mich noch irgendetwas an. Nichts hatte eine Bedeutung. Ich konnte lange Zeit ohne Essen sein, mein Körper kannte das. Ob ich Geld hatte oder nicht, es war mir egal.» So schlug er sich drei Jahre durch. «Heute würde man mich einen Clochard nennen. Das ist es, was ich war.» Im Sommer war es kein Problem. Er fand Früchte, Karotten. Brotreste. Im Winter war es schwer. «Ich konnte mir kein Zimmer leisten.» Für die Eichhof-Brauerei musste er im Lager «Harasse umtische». So schlich er sich im Winter nachts dort rein, legte sich zwischen die Bierkisten. Es war nicht warm, «aber i bi am Schärme gsi». Morgens verzog er sich. Lungerte rum, ging in die Läden. «I ha nie öppis zum Vergnüege gstohle. Ha numme grad gno, dassi ha chönne überläbe.» Kleider klaute er in der Brockenstube: «Als es Winter wurde, schaute ich mich in der Brocki um, nahm die Kleider, die mir zu passen schienen, ging in die Umkleidekabine, liess meine alten Sommerkleider dort liegen und ging mit den wärmeren aus der Brocki wieder raus.»
Irgendwann wurde Fred für die Rekrutenschule aufgeboten. Er fuhr nach Genf. «Natürlich musste man den Offizier grüssen. Ich grüsste einfach nicht.» Er habe das nicht aus bösem Willen unterlassen, er habe einfach nicht gegrüsst. «Absichtslos, wie immer», erinnert sich Ryter. «Unbeteiligt. Gleichgültig.» Wer nicht gehorchte, durfte am Wochenende nicht heim. «Ich habe auch die Befehle nicht aus bösem Willen nicht befolgt. Ich befolgte sie einfach nicht.» Also blieb der 20-Jährige am Wochenende dort. Scheitete Holz, das kannte und konnte er. Half in der Küche. «Nach 14 Tag hanni ab welle». Doch plötzlich stand sein Vorgesetzter vor ihm. «Er sprach mit mir.» Allein dies, dass jemand das Wort an ihn richtete, mutete für Fred seltsam an. «Er sagte, dass wir nun gemeinsam zum Truppenarzt gingen, ich brauche jemanden, der mich aufbaue. Plötzlich war da jemand, der sich für mich interessierte, der sich um mich kümmerte.» Er merkte: «Es git Lüt, wos guet mit mir meine.» Der Vorgesetzte war streng mit Fred. «Aber korrekt. Er sah, dass ich ein Mensch war, dem man nicht einfach sagen konnte: Gehorche jetzt und fertig!» Ryter: «Er merkte wohl intuitiv, dass ich einer war, der anders funktionierte als die anderen. Und er war damals selbst erst 22 Jahre alt.» Diesem jungen Mann vertraute Fred. Dieser baute ihn auf. Half ihm. «50 Jahre später rief er mich an und sagte mir: Weisst Du, Fred, es kamen in meinem Leben viele Menschen an mir vorbei, aber Dich vergesse ich nie.» Ryter blieb in der Rekrutenschule. Sein Vorgesetzter dispensierte ihn von Dingen, die Fred nicht machen konnte. Doch zum Arbeiten holte er ihn: «Dass i cha schaffe, das hett är gwüsst.»
Wahre Liebe
Wieder daheim, fand sein Vater eine Arbeit für ihn. Fred konnte bei der Bahn in Spiez Gepäck umladen. Freds Vorgesetzter war der Vater seiner späteren Frau Ruth, was der junge Mann damals noch nicht wusste. Sie nahmen ihn in die Familie auf, integrierten ihn. «Ich konnte ja nicht einmal schreiben. Nicht mal richtig meinen eigenen Namen!»
Als Fred anfing, sich daheim zu fühlen, nahm sich Ruedi, der jüngere der beiden älteren Brüder, das Leben. «Wir beide waren seelenverwandt.» Fred fiel zurück in ein schwarzes Loch. Hörte auf zu arbeiten. Stahl Autos. Ging auf die Strasse. «Mein grosses Glück war, dass mich die Polizei nicht erwischte.»
Die Eltern seiner späteren Frau begriffen, dass es ihm nicht gut ging. Sie verstanden seine Not. Auch der Bahnhofsvorstand unterstützte ihn. «Er isch e Wälsche gsi.» Er sagte zu Fred: «Ryter, heit Ornig.» Sie wussten, dass er eine schnelle Auffassungsgabe hatte, dass er nur wieder zurück auf den rechten Weg finden musste. «Er sagte zu mir: Ryter, Dir sit nicht dumm, Dir chöit nume nüt. Damit meinte er, dass ich halt nichts habe lernen können.» Dann wurde Fred befördert: «Da waren viele, die auf diesen Job gewartet hatten, doch sie nahmen mich. Weil sie sahen, dass ich gut war.» Er fand zurück ins Leben, unternahm Ausflüge mit der neuen Familie. Einmal stand eine grosse Bergtour auf den Wildstrubel an. Ruth, die Tochter, war dabei. «Erst dort funkte es zwischen uns.» Ruth Ryter: «Mir hei wyt ufe müesse, drfür, gäll?!». So wurden Ruths Eltern auch zu Freds Eltern. «Ihr Vater wurde mein Vater, ihre Mutter wurde meine Mutter. Zu ihnen konnte ich eine Beziehung aufbauen», so Fred.
Eines Tages sagte der Bahnhofsvorstand zu Fred, er solle die Kondukteurs-Prüfung machen. «Doch ich konnte weder lesen noch schreiben. Ich erschrak.» Doch der Chef liess sich nicht irritieren. «Er nahm mich jede Woche eineinhalb Stunden ins Büro und lernte mit mir.» Auch Ruth half ihm. «De bini uf das Bärn abe, ir Meinig, i schaffi die Prüefig sowieso nid.» Schliesslich erfuhr Fred, dass er sehr gut abgeschlossen hatte. Er erhielt die Chance, als Zugbegleiter zu arbeiten und später die Prüfung zum Betriebsdisponenten zu machen. «Statt dass Ruth und ich tanzen gingen, lernten wir.» Er schmunzelt: «Sie hätte die Prüfung auch bestanden.» Schliesslich schloss er nach drei Jahren seine Ausbildung ab, ohne Schulbildung, als beinahe Analphabet – mit dem zweitbesten Resultat. «Ja, mir hei büfflet.»
Das sechste Gen
Danach heirateten sie. Ryter sprach mit niemandem über seine Kindheit. Doch sie holte ihn ein: In regelmässigen Abständen hatte er Depressionen. Das war auch für Ehefrau Ruth schwer: «Manchmal sprach er einen Monat lang kein Wort mit mir.» Doch sie hielt zu ihm. Immer. Das Paar bekam drei Kinder. Es blieb ihnen eine Tochter. Auch sie leidet heute unter Depressionen. Fred: «Der Arzt erklärte uns das mit der Epigenetik. Dass Kinder dieses Gen, wenn ein Elternteil ein schweres Schicksal erlitt, erben können.» Die Eltern pflegten stets ein liebevolles Verhältnis zu ihren Kindern. Der Sohn war ein stiller, ruhiger Mensch. Ruth: «Die beiden stritten nie. Er tat, was die Schwester wollte.» Ruth schmunzelt über ihre Traurigkeit hinweg. Denn das Schicksal hörte nicht auf, Fred und Ruth zu beuteln: Das kleine Mädchen starb als Säugling, der Sohn an Krebs, als er 42 Jahre alt war. «Das hat unsere Tochter nie überwunden.»
Ruth: «Freds Depressionen kamen etwa alle drei Monate.» Fred: «Ich konnte meiner Frau nicht sagen, was ich als Kind durchmachen musste. Ich konnte mit niemandem darüber reden.» Dann, mit 50, kam alles hoch: «Da geisch nid dür ei Höll. Da geisch dür hundert Hölle.» Ruth: «Nachts war es schlimm. Ich musste ihn aus Albträumen wecken. Als er wach war, schlug er das Inventar zusammen.» Eines Tages begann Fred, alles aufzuschreiben. «So, wie ich halt konnte. Auf Zettel.» Damals waren die beiden bereits 30 Jahre zusammen. «Jede andere Frau wäre mir unterdessen davongelaufen. Ruth hielt immer zu mir.» Irgendwann wollte sie wissen, was Fred nachts aufschrieb. «Als ich es ihr sagte, riet sie mir, dringend Hilfe anzunehmen.» Über den Hausarzt fanden die beiden einen guten Psychiater in Thun. Es folgten Behandlungen. Ryter nahm Psychopharmaka. Bald darauf brauchte er einen Herzschrittmacher: Die Kindheit forderte nun auch von seinem Körper ihren Tribut. Noch heute friert Fred. Selbst wenn die Temperatur des Wasserbetts 33 Grad beträgt, liegt er nachts im Bett und zittert vor Kälte. «Mein Körper friert, weil das Gehirn die Kälte des Tenns oder des Brunnens, in den sie mich als Kind warfen, gespeichert hat.» So erklärte es ihm der Psychiater. Noch heute werden nachts Freds Hand- und Fussflächen, die Lippen, feuerheiss. Ruth: «Er ist dann pflätschnass, muss die Kleider wechseln.» Fred: «Die Hitze und das Schwitzen, das ist das Gefühl der Reissbürste auf meinem blutenden Rücken als Achtjähriger.» Mit Hilfe des Psychiaters gelang es Fred, seine Kindheit aufzuarbeiten. Endlich konnte er reden.
Vor zwanzig Jahren sprach er zum ersten Mal im Rahmen verschiedener Organisationen, welche die Schicksale der Verdingkinder und administrativ versorgten Menschen in der Schweiz zum Thema machten. Fred und Ruth gründeten Selbsthilfegruppen. Ruth: «Das funktionierte nicht. Die Betroffenen ‹kamen hintereinander›, weil niemand zuvor die Möglichkeit hatte, das eigene Schicksal aufzuarbeiten.» 2019 folgte der Film «Verdinger», wie ihn der erste Bauer despektierlich genannt hatte: Eine 90-minütige Film-Dokumentation über Freds Leben, von Saschko Steven und Beat Schmid.
Schliesslich entschuldigte sich Simonetta Sommaruga im Namen des Bundesrates bei den Verdingkindern. Fred verletzte es damals, dass sie alles ablas, die anwesenden Betroffenen nicht anschaute. «Trotzdem war es gut. Endlich nahm jemand unsere Schicksale ernst.» So entstand der «Runde Tisch». Betroffene konnten Eingaben machen: Das Parlament bewilligte als «Wiedergutmachung» einen Betrag von 25 000 Franken pro Person. Dies irritiert Ryter: «Die reiche Schweiz speist ihre 12 000 lebenden Betroffenen mit diesem Betrag ab.» Für ihn persönlich sei das okay. «Ich fand den Absprung aus diesem versehrten Leben. Aber viele Verdingkinder blieben ein Leben lang Knechte und Mägde. So lange, bis sie nicht mehr rentierten. Man schob sie in Heime und Institutionen ab.» Dies bedeute: «Dass diesen armen Menschen, wenn sie noch 25 Jahre lang leben, pro Jahr nur 1000 Franken davon zur Verfügung stehen.» Ryter nennt das Beispiel von Zürich, wo der Kanton seinen Betroffenen noch einmal je 25 000 Franken zukommen liess.
Der Schlangenspezialist
Und heute? Seit Jahren unterstützen
Ryters beeinträchtigte Menschen. Obwohl Fred gesundheitlich sehr angeschlagen ist – aufgrund der Mangelernährung als Kind leidet er an Herzproblemen, Osteoporose, Gehörschaden, Rückenproblemen –, ist er zur Stelle, wenn seine Expertise benötigt wird: Er kennt sich mit Schlangen aus. Warum? «Sie sind Aussenseiter, wie ich.»
Als ihre Eltern noch lebten, pflegten Ryters sie bei sich daheim. Manch ein Leidensgenosse beneidete Ryter, dass dieser im Fokus des Medieninteresses stand. «Ihnen sage ich: Hätte ich gewusst, was mental auf mich zukommt, hätte ich nie zugesagt, den Film zu drehen. Als wir ihn zum ersten Mal ganz
sahen, weinten wir alle drei: Der Filmemacher, der Kameramann und ich.»
Er habe kein schlechtes Leben, sagt Ryter. Heute informiert er Schülerinnen und Schüler über das einstige Versagen der Schweiz. Und er hat einen Wunsch: Er möchte alle Schulen im Berner Oberland besuchen, von seinem Schicksal erzählen. Damit Solches nie wieder geschehen wird. Sein Bedauern: «Die Lehrpersonen interessieren sich nicht mehr dafür.» Sie speisen ihn ab. Sagen, das Thema passe nicht in den Lehrplan. So, wie die Kinder der Armen einst nicht in den Plan der Gemeinden passten. Das schmerzt ihn. «So wird verschwiegen, was hierzulande einst geschah.»