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Die Wolfsmutter

Weihnachtsgeschichte | Andreas Sommer ist Sagenwanderer und lebt im Eriz. Dort, wo sich Wolf und Hirsch gute Nacht sagen. Der Geschichtenerzähler weiss, wie wichtig der Segen der Wolfsmutter ist. Er kennt die sozialen Tiere und deren Seele.

| Andreas Sommer | Kultur
Weihnachtsmärchen
Sagenwanderer Andreas Sommer kennt Wolf und Wölfin. Foto: zvg

Einst lebte auf einem unwirtlichen Berg mitten in unserem Land eine uralte Einsiedlerin in ihrer Mooshütte. Niemand wusste, wer sie war und woher sie stammte. Sie schien allein von den Gaben der Wildnis zu leben und in der Gunst alter Götter zu stehen. Einige behaupteten, sie könne das Wetter lenken und mit den Geschöpfen des Waldes sprechen. Andere priesen ihre Heilkünste. Manche hies-sen sie eine Hexe, andere eine Heilige. Auf jeden Fall nannte man sie überall nur «die Wolfsmutter», weil sie oft in der Begleitung eines schneeweissen Wolfes gesichtet wurde.

In derselben Zeit hirtete ein Mann namens Raubold in derselben Gegend seine Herde. Er war ein grimmiger Wildschütz, der den Tieren des Waldes gnadenlos nachstellte. Damals gab es noch zahlreiche Wölfe in unserem Land. Die Graupelze waren Raubold ein besonderer Gräuel, da sie ihm seine Beute streitig machten und bisweilen auch seine Tiere rissen. Raubold verfolgte sie deshalb mit besonderer Inbrunst. Da sie ihm aber meist entwischten, beschuldigte er die Wolfsmutter, die verhassten Raubtiere unter ihren Schutz zu nehmen. Die Dorfältesten ermahnten den tobsüchtigen Jäger zur Zurückhaltung und betonten, dass es nichts Gutes verheisse, die Waldfrau zu erzürnen. 

Da besann sich Raubold auf eine List. Aus Pflanzenwurzeln, welche ein tödliches Gift enthielten, kochte er einen Sud und legte an verschiedenen Stellen im Wald getränkte Köder aus. 

Doch schienen die klugen Wölfe die Falle zu wittern und verschmähten die tückischen Luder. Abermals argwöhnte der erfolglose Jäger, dass die Wolfsmutter dahinterstecken müsse und fluchte wutentbrannt gegen ihren Berg hinauf.

Als Raubold eines Tages eine Fährte verfolgte, lief ihm die alte Waldfrau unerwartet über den Weg. Ihre langen Haare waren schlohweiss wie Spinnweben. Aus ihrem verwitterten Gesicht leuchteten zwei unbändige Augen. Sie war in einen härenen Umhang gehüllt und stützte sich auf einen knorrigen Holzstab. An ihrer Seite hechelte der weisse Wolfsrüde.

«Warum streckst du alle meine Tiere ohne Erbarmen nieder?» fragte die Alte mit rauer Stimme.

Raubold funkelte wütend mit den Augen. «Es ist mein gutes Recht, in diesem Wald zu jagen und Nahrung für mich zu beschaffen», knurrte er.

«Der Wald speist alle seine Kinder», bestätigte die Alte besonnen, «doch bist du aufgefordert, dabei Mass zu halten und zugleich deinen Teil zurückzuerstatten.» 

Unvermittelt zog sie einen kunstvoll geschnitzten Pfeil unter ihrem Umhang hervor.

«Sieh, dies ist ein Freipfeil», erklärte sie andächtig. «Jedes Mal, wenn der Mond sich gerundet hat, kannst du damit ohne Anstrengung ein Tier deiner Wahl töten. Ich vermache ihn dir, wenn du mir dafür versprichst, die restliche Zeit hindurch meine Geschöpfe in Ruhe zu lassen.»

Unwillig schüttelte Raubold den Kopf: «Ein einziger Schuss in jedem Mond reicht niemals, um all die Bestien niederzustrecken, welche mir meine Tiere reissen.»

«Dann will ich dir zusätzlich eine Ampel schenken, in deren Lichtkreis kein Raubtier Macht über deine Schützlinge hat», bot die Wolfsmutter freundlich an. «Hänge dieses Licht nur jede Nacht über den Pferch, wo deine Tiere untergebracht sind. Es wird ihnen kein Leid mehr widerfahren.»

«Verschone mich mit deinem Zauber, altes Weib», spie der Jäger voller Abscheu. «Es ist meine Pflicht, die wilden Tiere auszumerzen, damit meine Herde genügend Platz und Futter hat. Die Zeit der Wildnis ist vorüber – und ich bin nun der neue Herr dieses Landes.»

Die Wolfsmutter schüttelte bedauernd den Kopf. «Dieses Land ist dir nicht feindlich gesinnt», erklärte sie versöhnlich. «Die vielen Geschöpfe, welche hier seit Anbeginn der Zeit wohnen, sind ebenso Teil des grossen Lebensgewebes wie du. Sie sind deine Verbündeten. Sie spenden dir Kraft und stärken deine Seele.»

«Unfug!» zischte der Jäger und ballte erbost die Fäuste. «Das Land gehört dem Stärkeren – und ich nehme mir nur, was mir zusteht. Die Wölfe aber, welche mir meine Herrschaft streitig machen, müssen allesamt zugrunde gehen. Für sie ist kein Platz hier.»

«Ich verstehe deinen Gram, mein Sohn», raunte die Alte. «Aber lasse mich dir nun die grösste meiner Gaben anbieten: Ich schenke dir diese Kappe. Sie weckt in dir die wunderbare Freundschaft mit allen wilden Wesen weit und breit. Wenn du sie trägst, wirst du ergründen können, warum alle meine Kinder hier ihren Platz einnehmen und was ihre einzigartige Aufgabe ist. Und du wirst verstehen, dass alles mit allem verwandt ist.» 

Die Wolfsmutter strecke Raubold eine wunderliche Kappe hin, die aus vielerlei Pelzwerk gefertigt war. 

«Davon will ich nichts wissen», beharrte der Mann trotzig. «Dir rate ich indes, dich künftig aus meinen Angelegenheiten herauszuhalten, sonst könntest du mein nächstes Opfer sein.»

Ein trauriges Lächeln huschte über das zerfurchte Gesicht der Wolfsmutter. 

«Wie du willst», seufzte sie schliesslich. «Du musst selbst die Verantwortung für dein Handeln tragen. Aber eines lasse dir geraten sein. Was immer du treibst in diesem Wald, halte dich stets fern von meinem Gefährten hier.» Sie deutete auf den weissen Wolf, welcher den Mann die ganze Zeit aus sei-nen unergründlichen Augen beobachtet hatte. «Er verkörpert die wilde Seele dieses Landes und steht unter meinem ausdrücklichen Schutz.»

Der Anblick des edlen Tieres liess den Mann innerlich erschauern. Er spürte eine Macht in diesem Geschöpf, welche ihn ängstigte. Und zugleich erweckte das makellose Fell ein unwiderstehliches
Be-gehren in ihm. Mit einem spöttischen Lächeln wandte er sich schliesslich ab.

Raubold frönte weiterhin ungehemmt seiner Jagdlust. Obwohl er tief in sich einen lodernden Hass gegen die alte Waldfrau verspürte, schlug er künftig einen weiten Bogen um deren Behausung.

Eines Tages im Herbst sichtete er jedoch unerwartet den weissen Wolf. Ruhig trank der Rüde aus einer Quelle und beachtete den Jäger nicht, welcher ganz in der Nähe aus dem Unterholz spähte.

«Das ist meine Gelegenheit», dachte Raubold voller Ingrimm. Nun werde ich mir diesen unvergleichlichen Pelz sichern und zugleich der alten Hexe ihren Meister zeigen. 

Ohne zu zögern legte er seinen besten Pfeil auf die Bogensehne, zielte kurz und schoss.

Ein heller Lichtblitz wischte sein Augenlicht schlagartig aus. Keuchend stürzte er ins Gestrüpp. Ein langgezogenes Aufheulen voller Trauer und Wehmut schallte durch das Tal.

Als er seine Augen wieder aufschlug, stand die Wolfsmutter hoch aufgerichtet über ihm. Ihre Augen waren wie lodernde Fackeln, umweht vom weissen Gespinst ihres langen Haares. 

«Du hast also gewählt», verkündete sie kühl. «So siehe denn nun selbst, was dein massloser Hass aus dir gemacht hat.»

Das anklagende Heulen klang noch immer in den Ohren des Jägers. Erst jetzt stellte er fest, dass es seine eigene Stimme war, welche fortwährend jaulte und einen uralten Schmerz aus seiner Brust hervorquellen liess. Raubold kauerte auf allen Vieren im Unterholz des Waldes. Schwarzer, struppiger Pelz bedeckte seine Gliedmassen und seinen hageren Leib. Sein Kopf hatte sich in eine wölfische Schnauze verwandelt und aus seinem Steiss wand sich eine rus-sige Rute. Mit funkelnden, rotumrän-derten Augen suchte er fieberhaft seine Umgebung ab. Die Wolfsmutter und ihr Gefährte beachteten ihn freilich nicht mehr und verschwanden spurlos in der Tiefe des Waldes.

Raubold irrte in seinem ungestalten Tierleib lange durch die Wildnis. Wo immer er auftauchte, zogen sich die anderen Bewohner des Waldes vor ihm zurück. Denn das Entsetzen, welches er über lange Jahre hinweg in der ganzen Gegend verbreitet hatte, ging noch immer von ihm aus. Als er die Nähe seiner Herde suchte, stoben die Tiere von panischer Angst erfüllt davon. Auch die Dorfbewohner erkannten seine wahre Natur nicht mehr. Sobald sie seiner ansichtig wurden, begannen sie ihn zu hetzen. Raubold musste um sein Leben rennen.

Bald befiel den Mannwolf ein unbändiger Hunger. Um in seiner Tiergestalt zu jagen, fehlte ihm aber die nötige Erfahrung. Da stolperte er beinahe beiläufig über einen Kadaver, welcher auf einem Wildwechsel lag. Augenblicklich lief ihm bei diesem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Aber es war bloss einer jener vergifteten Köder, welche er selbst überall im Wald verteilt hatte. Er wusste nur zu gut, was ihm blühte, wenn er sich darüber hermachte. Das Gift, welches er ausgesät hatte, wandte sich nun gegen ihn.

Von massloser Verzweiflung überwältigt, reckte er seine struppige Schnauze in die Höhe und heulte sein ganzes Elend in den Wald hinaus.

Es heisst, dass die Wolfsmutter niemals eines ihrer Kinder im Stich gelassen hat.

 

Sonst verdorrt die wilde Seele

Kommentar von Andreas Sommer



«Ich habe die Geschichte über die Wolfsmutter den Bildern unserer alteuropäischen Mythologie nachempfunden. Symbolhaft beschreibt sie die ursprüngliche Verbundenheit des Menschen mit den wilden Kräften des Landes. Der Wolf ist ein starkes Symbol für diese Urkräfte. In jüngster Zeit ist er in unser Land zurückgekehrt und hat es rasch und erfolgreich wiederbesiedelt. Für mich ist die Heimkehr dieses prächtigen Geschöpfs ein Geschenk. Er ist ein uralter Freund und Verbündeter von uns Menschen (der Urahne des Hundes) und wahrhaftige Medizin für unsere überzivilisierte und schmerzhaft von der Natur abgetrennte Seele.

Mit der Rückkehr des Wolfs ist aber auch jene Ära zu Ende gegangen, in der man die Viehherden hierzulande einfach monatelang unbewacht und schutzlos im Gebirge herumstreifen lassen konnte. Professionelle Hirten passen sich den veränderten Bedingungen an und schützen ihre Herden mit zunehmendem Erfolg (durch Hunde, Zäune, Behirtung). Kleinviehbesitzer, welche den zusätzlichen Aufwand des Herdenschutzes nicht leisten (und die ihre Tiere oft im Nebenerwerb oder als Hobby halten), mögen sich hingegen ernsthaft die Frage stellen, ob ihre Bedürfnisse wirklich Vorrang haben vor der Integrität eines vitalen und sich selbst regulierenden Ökosystems. 

Rechtskonservative Kreise um Bundesrat Albert Rösti beabsichtigen derzeit, die natürliche Wiederbesiedlungsdynamik des Wolfes in der Schweiz zu blockieren und durch willkürliche Abschüsse künstlich zu «regulieren». Dieses Vorgehen ist nicht nur widersinnig und unmoralisch, es übergeht zudem den Volkswillen (Abstimmung gegen das neue Jagdgesetz vom 27. September 2020), verstösst gegen die demokratische Tradition unseres Landes und verletzt internationale Artenschutzabkommen, zu denen sich die Schweiz verpflichtet hat. Das eigenmächtige Gebaren von Bundesrat Rösti und seinen Parteigenossen erachte ich als anmas-send und einer modernen Demokratie zutiefst unwürdig. Die Argumentation dieser Herren ist manipulativ, anachronistisch und zielt meilenweit an wildbiologischen Erkenntnissen vorbei. Der beschämende Feldzug gegen die Schweizer Wölfe muss sofort gestoppt werden!

Mehr als je zuvor erkennen wir Menschen derzeit, wie essenziell intakte und autonome Ökosysteme für das Überleben unserer eigenen Art sind. Kein Weg führt daran vorbei, uns jetzt auf eine respektvolle Koexistenz mit allen unseren wilden Nachbarn einzulassen und unsere Nutztierherden in angemessener Weise zu schützen. Sonst wird unsere wilde Schweizer Seele immer mehr verdorren.

Ich bin überzeugt, dass wir dringend auf den Segen der Wolfsmutter angewiesen sind, um uns in diesem wunderschönen Land wirklich glücklich und in Frieden beheimaten zu können.»

Andreas Sommer, «Der Sagenwanderer», Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.


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