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Zwischen den Welten und Lebensaltern

Kunst | Das Kunstmuseum Thun zeigt in seiner aktuellen Ausstellung «Stadt–Land–Fluss» Werke von Gustav Stettler und stellt diesen Werke aus der Sammlung gegenüber. Im Zentrum steht ­dabei die Verbindung von Landidylle und urbanem ­Lebensraum, ein Spannungsverhältnis, das die lokalen Künstlerinnen und Künstler stets inspiriert hat.

| Bettina Gugger | Kultur
Zwischen den Welten und Lebensaltern
Gustav Stettlers «Hippie-Paar» aus dem Jahr 1969. Foto: Jean-Jacques Nobs

Gustav Stettlers Ganzkörperporträts vor dunklem Hintergrund wirken seltsam zeitlos: Die langgezogenen Figuren mit Mandelaugen erinnern an Figuren von Amedeo Modigliani. Die stilbewussten Damen mit ihren Ballerinas könnten aber auch dem Heute entspringen; der Maler akzentuiert Stoff- und Schnittmuster, als ob seine Modelle gleich über den Laufsteg schreiten würden.

Das Kunstmuseum Thun widmet dem Maler, der 1913 in Oberdiessbach geboren wurde und 2005 in Basel starb, die Ausstellung «Stadt–Land–Fluss». Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Kunst-Raum Riehen, der in seiner Ausstellung im Herbst 2023 Stettler als Chronisten einer Gesellschaft im Wandel interpretierte.

Helen Hirsch, Direktorin des Kunstmuseums Thun, legt den Fokus auf das Spannungsverhältnis zwischen Stadt und Land, «auf das Fliessen zwischen den beiden Lebenswelten», wie der Saaltext festhält. Den Werken Stettlers stellt sie Werke von Künstlerinnen und Künstlern aus der Sammlung gegenüber, die zwischen den beiden Welten pendeln, die sich vom pulsierenden Stadtleben inspirieren lassen und auf dem Land wieder auftanken. Ausgewählte Zitate der zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler komplettieren die Ausstellung. So befriedigt beispielsweise für Michael Streun die Stadt Thun sein Bedürfnis nach Entspannung, wobei er da auch die Anregung zum Arbeiten findet. Sein Por­trät einer jungen Frau «Girl with a Red Blouse I» steht im Dialog mit zwei von Stettler porträtierten jungen Damen.

Entbehrungsreiche Jugend

Gustav Stettler kam nach dem Tod seines Vaters als 10-Jähriger auf einen Bauernhof in Herbligen, wo er mit anpacken musste. In Oberdiessbach absolvierte er eine Lehre als Flachmaler, bevor es ihn nach Basel zog. Parallel zur Arbeit auf dem Bau besuchte er Kurse an der kunstgewerblichen Abteilung der Allgemeinen Gewerbeschule und absolvierte eine Ausbildung zum gewerblichen Fachlehrer. Er heiratete 1938 Nelly Stähli aus Steffisburg. Ein Jahr darauf wurde Sohn Peter geboren, und Stettler musste 22 Monate Aktivdienst leisten. 1943 wurde er an der kunstgewerblichen Abteilung der Allgemeinen Gewerbeschule als Zeichenlehrer angestellt, woraus ein Dialog mit der Jugend entstand, der ihn ein Leben lang inspirieren sollte. Bestechend beispielsweise sein «Hippie-Paar» aus dem Jahr 1969, dessen Blick ruhig auf den Betrachter fällt. Die Blüten im Haar der jungen Frau mit dem langen Hals und dem ovalen Gesicht und ihre hellblau geschminkten Augen weisen über die Zeit hinaus. Die Lederkluft ihres Angebeteten mit Ledermütze erinnert entfernt an eine Uniform. Der Schriftzug «I love it» auf seiner Jacke spielt mit der Assoziation eines militärischen Abzeichens. Das Paar scheint für die Sehnsucht der Jugend zu stehen, ein Leben in Frieden zu leben, frei von gesellschaftlichen Zwängen, welche die Liebe und die individuelle Freiheit bedrohen. Das Gemälde behält auch 2024 seine Gültigkeit, der Ausdruck des Paares entspringt nicht bloss einer Mode; Stettler malte hier die Hoffnung, welche der jungen Generation eigen ist.

Auf der Suche nach Freiheit scheint auch Reto Camenischs «Jacky» zu sein.Die Fotografie aus dem Jahr 1987 zeigt eine junge Dame in Lederjacke mit kurzen, blonden Haaren und grossen Ohrringen, die den Betrachter durch den Spiegel unsicher anschaut, eine Verletzlichkeit offenbarend, die im Widerspruch zu ihrer punkigen Erscheinung steht.

Daneben ist eine grossformatige Schwarz-Weiss-Fotografie von Balthasar Burkhard zu sehen: Mexico City vom Helikopter aus fotografiert. Von da führt der Rundgang weiter zu Stettlers Stadtbildern. «Der Spaziergang» aus dem Jahr 1944 zeigt ein Paar mit Kind. Die drei sind akkurat gekleidet, der Mann trägt eine Krawatte, was im Widerspruch zur Trostlosigkeit steht, die von der städtischen Szenerie und der Farbgebung ausgeht; das Gemälde ist in Grautönen gehalten und fängt die düstere Stimmung der Kriegsjahre in der Anonymität der Stadt ein. Der Durchbruch in Basel gelang Stettler durch «Die Zeugen», ein Gemälde von 1942/43, das eine 13-köpfige Gruppe von dunkel gekleideten Menschen zeigt, die ihre eindringlichen Blicke auf den Betrachter richten. Das Gemälde ging als Sieger eines Wettbewerbs des Kunstkredits Basel-Stadt hervor und sollte fortan den Trausaal des Zivilstandsamtes schmücken. Jedoch nicht für lange. Das Gemälde ­beunruhigte die Gemüter der zu Vermählenden und wurde bald wieder abgehängt, um einen Platz im Museum zu finden. Sichtbarkeit der Jungen Mit der Gruppe 48, die Stettler zusammen mit jungen Künstlerkollegen im Jahr 1948 gründete, kämpfte er für die Sichtbarkeit der jungen Künstlergarde, die das Interesse an der Darstellung des Menschen verband. Später zog Stettler selbst die Kritik einer jungen Künstlergruppe auf sich, als er dieser den Zutritt zur Druckerpresse der kunstgewerblichen Abteilung der Gewerbeschule verweigerte.

Stettler unterrichtete neben dem Zeichnen auch Druckgrafik: Seine Hell-dunkel-Kontraste zeugen vom hohen Verständnis für die Technik. Auch hier stehen Porträts im Zentrum der Arbeiten.

Am leisesten kommen Stettlers Landschaften daher, fast so, als hätte er die alpine Idylle in seinem Atelier in Iseltwald am Brienzersee nur für sich gemalt. Dieser Kontrast zu seinen Por­träts macht deutlich, wie sehr uns unsere Lebenswelt prägt.

Der grosse Ausstellungsraum zeigt, ausgehend von Stettlers Stillleben «Eier» und «Gelbe Birnen», Positionen von zeitgenössischen Kunstschaffenden, die durch Originalität und Facettenreichtum erfrischen. Helen Hirsch ist es ein Anliegen, sinnliche Ausstellungen zu schaffen, welche ein breites Publikum ansprechen: «Die Besucherinnen und Besucher sollen etwas entdecken und erleben», meint Hirsch.

«Stadt–Land–Fluss» garantiert dafür: Wie das gleichnamige klassische Quizspiel fördert die Ausstellung Unerwartetes zutage, verblüfft und weckt die Neugierde der Besucherinnen und Besucher, mehr über die ausgestellten Werke und ihre Künstlerinnen und Künstler zu erfahren.

Kunstmuseum Thun, Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr, Mittwoch, 10 bis 19 Uhr. 21. Feb­ruar, 18 bis 20 Uhr, offenes Atelier, 24. Februar, 14 bis 16 Uhr, offenes Atelier für Kinder, 28. Februar, 18.15 bis 19.15 Uhr, öffentlicher Rundgang, 3. März, 11.15 bis 12.15 Uhr, Rundgang im Dialog, 10. März, 11.15 bis 12.15 Uhr, Rundgang im Dialog.
Weitere Infos unter kunstmuseumthun.ch


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