Wenn Secondhand-Kleidung für nachhaltige Begegnungen sorgt
Oberstocken • Heidi Strauss hat mit dem «Greenpoint» im Stockental einen Secondhandshop geschaffen, der durch qualitativ hochwertige Kleidung und faire Preise besticht. Darüber hinaus bietet die gelernte Coiffeuse einen Ort für Begegnungen.
Rein zufällig verschlägt es kaum eine Menschenseele nach Oberstocken am Fusse der Stockhornkette, obwohl sich hier der Eingang zum Berner Oberland von einer einladend offenen Seite zeigt. Die Ortsbilder im Tal entsprechen noch weitgehend dem Zustand wie vor mehr als hundert Jahren. Die prächtigen Bauernhäuser zeugen von der Bedeutung der Landwirtschaft im Tal. Die Industrie sucht man hier vergebens, vereinzelt trifft man auf kleine Gewerbebetriebe.
Vor 15 Jahren hat Heidi Strauss hier angrenzend zu ihrem Wohnhaus den dazugehörigen Stall ausgebaut, um ihr Geschäft zu eröffnen: ihren Secondhandshop «Greenpoint», inspiriert von der lokalen Kinderkleiderbörse, die sie damals öfters mit ihren drei Kindern besuchte. «Der Gedanke der Nachhaltigkeit schwang von Anfang an mit», so Strauss, für die es unverständlich ist, wie Billigklamottenläden T-Shirts für zwei, drei Franken verschleudern können, ohne für die daraus resultierenden Abfallberge zur Verantwortung gezogen zu werden.
Sobald Heidi Strauss im Laden steht, rennen ihr die Kundinnen die Bude ein. Das kann auch mal stressig werden, wenn sie ausserhalb der Öffnungszeiten eigentlich nur neue Ware beschriften will. «Aber so ist das halt auf dem Land», lacht sie, dann öffne sie auch mal an ihren freien Tagen die Ladentür.
Strauss bietet einen Mix aus Markenartikeln und qualitativ einwandfreier No-Name-Bekleidung, wobei sich diese preislich nur minimal voneinander unterscheiden. Strauss geht es nicht um Labels, sondern um die Kleidung selbst, um den Stil, um Farben und Schnitte. Und dafür hat die gelernte Coiffeuse ein sicheres Gespür. Lieblingsstücke bringt sie an Kleiderständern zur Geltung, Taschen und Gürtel drapiert sie als Eyecatcher auf Regalen. Dabei sind ihre Kombinationsvorschläge spielerisch, lustvoll, undogmatisch – genau wie ihre Kundschaft. «Die Frauen, die zu mir kommen, sind Individualistinnen, die das tragen, was ihnen steht, und nicht, was Mode ist», verrät Strauss.
Unermüdliche Macherin und Visionärin
Schon als Coiffeuse habe sie eine bodenständige Kundschaft gehabt, verrät Strauss, die in Stocken aufgewachsen ist. Mit 24 Jahren übernahm sie das Coiffeurgeschäft von Friedrich Wahlen in Münsingen, wo sie nach der Lehre angestellt war. «Bisch du verruckt?», habe ihr Mann erst gemeint, als sie unerwartet Geschäftsinhaberin wurde, schliesslich hatte das Paar im selben Jahr erst gerade ein Haus in Stocken gekauft – jene liebevoll gestaltete Oase, wo sich die Kundinnen heute nach gelungenem Shoppingerlebnis bei einem Kaffee im Stübli oder im Garten stärken können. Aber Heidi Strauss wusste schon früh, was sie will und vor allem: was sie kann.
Sie lacht verschmitzt, als sie die Erinnerungen aufleben lässt. Obwohl sie gerade erst vom wöchentlichen Training kommt – sie leitet seit 22 Jahren den Damenturnverein Stocken-Höfen und hält sich zu diesem Zweck mit einer zusätzlichen Trainingseinheit fit –, wirkt sie, ungeschminkt, in der schwarzen Jogginghose, den Chucks und mit dem trendigen Kurzhaarschnitt wie aus dem Ei gepellt. Mit ihren 60 Jahren gibt es nichts, was sie nicht tragen könnte, da sie durch und durch einen jugendlichen Geist verkörpert, ohne sich jemals anzubiedern.
Heidi Strauss renovierte also als frisch gebackene Unternehmerin den Coiffeursalon in Münsingen, mietete sich kurzfristig in einem anderen Geschäft ein, um weiterhin ihre Kundschaft bedienen zu können, ehe sie 1989 mit sechs Coiffeur-Plätzen und einer Angestellten startete. Sie pendelte täglich von Stocken nach Münsingen, durchlebte Höhen und Tiefen, musste in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten auch mal eine Angestellte entlassen – später konnte sie diese wieder einstellen – und wurde schliesslich mit 32 Jahren schwanger. Obwohl sie eigentlich gar keine Kinder gewollt habe, ist sie heute glückliche Mutter dreier erwachsener Kinder, wie Heidi Strauss lachend erzählt. Dank der Unterstützung ihres Ehemannes und der Schwiegermutter konnte sie ihr Coiffeurgeschäft all die Jahre weiterführen.
Nebenbei trug sie auch Friedrich Wahlens Erbe als Theatercoiffeuse weiter. Über 20 Jahre lang begleitete Heidi Strauss die Freilichtproduktionen der Theatergruppe Stockental. Bis zwei Monate vor der Premiere sei sie jeweils für Anliegen ausserhalb des Theaters nicht mehr ansprechbar gewesen, meint Strauss. Dabei war sie nicht nur für die Maske zuständig, sondern auch für die Kostüme. «Das war jeweils eine Riesen-Büez, all die Kostüme zusammenzustellen», so Strauss. Gerade dieses Jahr habe sie das Gotthelf-Stück «Die Käserei in der Vehfreude» herausgefordert. Es gelang ihr, mit ihren Kostümen ein raffiniertes Ganzes zu schaffen, angelehnt an die historische Zeit, ohne die Darstellerinnen und Darsteller zu verkleiden. Nun soll damit aber Schluss sein. Heidi Strauss hat noch andere Pläne. Sie liebäugelt damit, ihre individuellen Shoppingevents für kleine Gruppen, mit anschliessendem Apéro, auszubauen.
Fünf Jahre lang führte sie ihren «Greenpoint» parallel zum Coiffeurgeschäft, ehe sie sich mit 50 Jahren ganz auf ihre Kleiderbörse konzentrierte. «Am Anfang habe ich gepickelt», erinnert sie sich. Sie musste erst einen Weg finden, ihr Geschäft mit weniger Aufwand lukrativer zu machen. Zu Beginn habe sie oft nächtelang Waren mit Preisschildern versehen. Heute hat sie die Warenannahme auf 20 Artikel begrenzt, denn an Lieferantinnen mangelt es ihr nicht. Sie kennt ihre Frauen genau. Da sind die Frustkäuferinnen, die ihre Fehlkäufe mit gutem Gewissen bei ihr abliefern. Oder jene Frauen, die in kurzer Zeit mehrere Kleidergrössen zu- oder abnehmen. Und einige ihrer Lieferantinnen arbeiten in der Modebranche und müssen ihre Garderobe entsprechend häufig anpassen. So ist für ein ständig wechselndes Sortiment gesorgt.
Ein Besuch im «Greenpoint» macht deutlich, dass Secondhand heute längst nichts mehr mit dem muffigen Image der Brockenhäuser zu tun hat. Was es bei Heidi Strauss zu kaufen gibt, hielt ihrem ästhetischen Urteil stand, schliesslich überlässt die Geschäftsfrau nichts dem Zufall. Sie würde einer Kundin auch niemals etwas aufschwatzen, so Strauss. Wer ihre Modeberatung in Anspruch nimmt, darf mit ihrer Ehrlichkeit rechnen. Da ist sie manchmal auch «fadegrad». «Ich habe keinen Chef im Nacken, der mir Druck macht, wenn ich zu wenig verkaufe», so Strauss. Im Laufe der Jahre habe sie viel über Figuren und Proportionen gelernt; ihr geht es darum, die Vorzüge einer Frau zu betonen und ihre Problemzonen zu kaschieren.
Wertschätzung und Dankbarkeit
Herausfordernd war die Coronazeit. Da war Strauss froh, dass sie von ihrem Notvorrat zehren konnte, denn die Rechnungen flatterten auch bei geschlossenen Türen weiterhin ins Haus. Sie, die sich als «Steinzeittyp» bezeichnet, musste sich mit den digitalen Möglichkeiten auseinandersetzen. Sie erstellte eine Kundenkartei auf Whatsapp, kontaktierte ihre Lieferantinnen, die bereit waren, ihre Kleider zurückzunehmen, und Strauss überarbeitete ihr Konzept. Bei der Wiedereröffnung konnte sie schliesslich schnell wieder mit ihrer Kundschaft in Verbindung treten. Auch heute ist sie mit ihren Kundinnen per Whatsapp in Kontakt. Manche kündigen ihren Besuch an, anderen schreibt sie, wenn deren «Lieblingslieferantin» neue Ware gebracht hat. Ihr Mann hält derweil ihre Webseite à jour.
Hinter ihrem Erfolg verbirgt sich neben ihrer jahrelangen Erfahrung als Unternehmerin und ihrem sicheren Gespür für Mode und Stil aber noch ein anderes Talent: Heidi Strauss kann zuhören. Viele ihrer Kundinnen kommen zum Plaudern zu ihr. Sie schätzen sie als neutrale Zuhörerin, die vielleicht eine Einschätzung abgibt, aber nicht urteilt. «Die Frauen können darauf vertrauen, dass ihre Geschichten bei mir gut aufgehoben sind», so Strauss. Das sei auch als Coiffeuse stets das oberste Gebot gewesen: Diskretion. Heidi Strauss strahlt aber auch diese besondere Ruhe aus, mit der sie das Gegenüber für sich gewinnt. «Mit 60 geht man anders durchs Leben als noch in der Jugend. Da ist diese Dankbarkeit für die alltäglichen Dinge im Leben», so Strauss. «Die Wertschätzung meiner Kundschaft gibt mir sehr viel.»