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«Wir definieren uns über Abgrenzung»

Landstrassenkind | Michael Herzig stammt aus der Region. Der Historiker, Lehrer an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW)und Schriftsteller schrieb die Geschichte von Christian und seiner Mutter, der sprachgewaltigen Schriftstellerin Mariella Mehr. Das Buch, das das Thema ­«Kinder der Landstrasse» beleuchtet, sollte in jeder Schule Pflichtlektüre sein – weil das Thema traurig aktuell ist und aufzeigt, wer «wir Schweizer» sind.

| Sonja Laurèle Bauer | Begegnung
Michael Herzig
Historiker und Autor Michael Herzig. Bild von Ayse Yavas/zvg

Michael Herzig kennt die Geschichte der Familie Mehr, er hat jahrelang dazu recherchiert, sich mit Christian und seiner Mutter Mariella auseinandergesetzt. Seine Meinung ist deshalb so gewichtig, weil er, wie er sagt, mit den Fahrenden gesprochen hat, nicht über sie.
Herr Herzig, wir heutigen Schweizerinnen und Schweizer verstehen nicht, wie es vor noch nicht allzu langer Zeit hierzulande möglich war, dass man Jenischen, um deren Kultur auszumerzen, im Rahmen des Pro-Juventute-Projekts «Kinder der Landstrasse» die Kinder wegnahm – doch zu ihren Gunsten viel verändert hat sich seither nicht, ob wir dies nun wahrhaben wollen oder nicht. Warum muss jemand sein wie die Mehrzahl, angepasst und sogenannt integriert, damit er akzeptiert wird?
Michael Herzig, gerade zu Gast im Berner Oberland, lehnt sich im Stuhl zurück: «Die Frage ist, was die Norm ist.» Wir müssten als Gesellschaft funktionieren und bestimmen, was «drin liege» und was nicht. «Dazu gibt es Gesetze und Wertvorstellungen. Es geht immer darum, welches Verhalten erwünscht ist und wie wir mit Abweichungen davon umgehen.» Auffälliger als Individuen seien soziale Gruppen, die nicht der Norm entsprächen. «Die Gesellschaft muss verhandeln, wie man mit diesen umgeht. Und die Schweiz hat eine lange Geschichte im repressiven Umgang mit abweichendem Verhalten.» Im 19. Jahrhundert habe man Fahrende auf Galeeren, in Arbeitslager und psychiatrische Kliniken gesteckt. «Die Schweizer Gesellschaft, einzelne Kantone und einzelne Gemeinden haben, wenn wir in die Geschichte schauen, eine recht rigorose Normen-Durchsetzung; Menschen werden zur Assimilierung gezwungen. Die Diskussion ist virulent, es geht immer um die Frage, wie man mit In- oder Ausländern umgeht, die sich abweichend verhalten oder gegen das Gesetz verstossen.» Er könne nicht sagen, warum dies so sei. Aber er stelle fest, wenn er die Schweizer Geschichte anschaue, so der Historiker, «dass hierzulande gesellschaftliche Normen gewalttätig durchgesetzt wurden und werden, beispielsweise durch Kindeswegnahmen, Sterilisierung und Psychiatrisierung.»

Der Diversität entgegengesetzt

So sei es auch in Bezug auf die Jenischen gewesen. «Das Interessante daran ist, dass viele der sogenannt Fahrenden gar nicht fuhren, sondern sesshaft waren. Aber weil sie als Jenische identifiziert wurden, warf man alle in dieselbe Schublade. Sesshaft sein stand als Synonym für die Verbürgerlichung, die Anpassung an die bürgerlichen Normen – wenn nötig eben mit Zwang.» Integra­tion heisse eigentlich nichts anderes als Anpassung. Wer es nicht so gut könne oder wolle, werde als Bedrohung empfunden. «Das ist übrigens heute noch so, wenn auch versteckter.»
Wenn man weit genug im Stammbaum zurückblicke, seien alle Schweizer Familien irgendwann einmal fahrend gewesen. Der entscheidende Punkt sei aber weniger die Abstammung als die Tatsache, ob man als «fremd» oder «anders» identifiziert werde oder eben nicht. «Ich bin der Meinung, dass die Jenischen, Sinti und Roma vor allem durch die Diskriminierung zu einem Volk gemacht wurden.» Natürlich gebe es eigenständige Merkmale wie Sprache, Lebensart und Kultur, die sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt hätten. Ein Teil dieser Identität sei aber auch entstanden, «weil die Familien und Gruppen durch die Geschichte hindurch diskriminiert werden. Die jenische Identität hat viel mit der Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft zu tun, die durch ihre Unterdrückung zwar unsägliches Leid verursacht hat, paradoxerweise aber auch das gestärkt hat, was sie eigentlich beseitigen wollte.»

Das Ausmerzen der Armut

Im Rahmen des sogenannten Hilfswerks «Kinder der Landstrasse» hat Pro Juventute von 1926 bis 1972 systematisch jenische Familien zerstört. Den Eltern wurden ihre Kinder weggenommen, Erwachsene und Kinder wurden in Kliniken interniert, Frauen wurden teilweise ohne ihr Wissen oder mit Hilfe von Druck und Zwang sterilisiert. «Ein Verbrechen, das nicht einmal zur Folge hatte, dass die Organisation den Namen ändern musste.» Heute halte man diesen langjährigen Akt der Brutalität oft für Rassismus. «Doch ich bin gar nicht so sicher. Ich denke, dass das primäre Motiv eher der Kampf gegen Armutsbetroffene war.» Unter dem Stichwort «Pauperismus» sei Armut nicht als Schicksalsschlag bezeichnet worden, sondern als Lebensstil. Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen seien von Armut betroffene Menschen aus allen Gesellschaftsschichten gewesen. Auch verarmte Bauern, die ihr «Heimetli» verloren, konnten zu Fahrenden werden und gerieten danach ins Visier der Behörden. «Letztlich ist es ein Armutsthema: Es war und ist immer noch ein Kampf gegen die Armen. Dies finde ich entscheidender als Rassismus. Dieser wirkt verstärkend, steht aber nicht unbedingt im Zentrum.»

Die Neuen sind die Unerwünschten

Dieses Verhalten habe viel mit dem schweizerischen Staatsaufbau zu tun: «Weil die Gemeinden für die Armenpflege verantwortlich sind, heute nennt man es Sozialhilfe.» Durch die Zwangseinbürgerung der Fahrenden im 19. Jahrhundert seien die Familien vom Kanton den verschiedenen Gemeinden zugewiesen und somit sesshaft gemacht worden. Das heisst: «Der Kanton zwang die Menschen, die zuvor durch die Schweiz und das nahe Ausland reisten, nun Bürger eines einzelnen Dorfes zu sein. Doch die jeweiligen Dörfer wollten die Fahrenden natürlich nicht, weil sie Fürsorgekosten fürchteten.» Es habe reichere Dörfer (Gemeinden) gegeben, die ärmeren Geld angeboten hätten, damit diese die Fahrenden bei sich aufgenommen hätten. Klar, dass diese so meistens in ländliche Regionen abgeschoben worden seien. Diese betroffenen Dörfer wiederum hätten damit reagiert, dass sie den Neuen viele Rechte verweigert hätten. «Die Fahrenden durften beispielsweise nicht an der Allmend teilhaben, die allen Bürgerinnen und Bürgern gehörte. Man schloss die Zwangseingebürgerten von Teilen des gesellschaftlichen Lebens aus und machte sie so zu Aussenseitern.» Solches Verhalten sei aber nicht typisch schweizerisch, sondern finde sich über die ganze westliche Welt hinweg: «Auch heute lautet doch die Frage nach wie vor: Wer war schon da, wie lange, und wer ist neu? Jene, die zuletzt ankamen, werden am stärksten stigmatisiert. Wenn sie Glück haben, kommt eine neue Gruppe, die von ihnen ablenkt.»

Niklaus Meienberg als Vorbild

Michael Herzig ist, wie sein Vorbild im Geiste, Niklaus Meienberg, Historiker und Publizist. Neugier und Gesellschaftskritik, Mut und Reflexion gehören auch zu seinem Alltag als Lehrer für angehende Sozialarbeiter: «Mich bewegt, wie Menschen mit belastenden Erlebnissen umgehen: Armut, Krankheit, Jobverlust, Wohnungslosigkeit, Gewalt, Flucht und Ungerechtigkeit können traumatisch sein. Mit solchen Schicksalen gehen Menschen unterschiedlich um.» Sucht und andere psychische Krankheiten seien häufige Folgen, andere versuchten, sich zu wehren, und würden gewalttätig, wieder andere kämpften und schummelten sich durch. «Manchmal sind solche Verhaltensmuster erfolgreich, meistens verschlimmern sie aber die Situation.» Die anderen Menschen sähen dann nur noch das Bewältigungsverhalten: «sich gehen und fallen zu lassen zum Beispiel, aber auch Lügen, Ausreden, manchmal Drohungen und Gewalt. Das führt häufig zu einer fatalen Spirale aus Reaktion und Gegenreaktion.» Daraus führe nur ein Weg heraus: «Zuerst einmal versuchen zu verstehen und nicht gleich urteilen.» Das sei eine seiner Einsichten aus der Arbeit am Buch «Landstrassenkind». Sowohl Christian als auch Mariella hätten viele Leute vor den Kopf gestossen. Beide seien impulsiv, aufsässig und eigentlich fast immer im Widerstand (gewesen). Herzig erklärt und beschreibt dieses Verhalten in seinem Buch als Folge der erlebten Traumatisierungen. Zwar habe Pro Juventute «Kinder der Landstrasse» 1972 unter Druck auflösen müssen, doch Christian und Mariella Mehr hätten ihr ganzes Leben lang mit den Folgen zurechtkommen müssen. Wie sie dies getan hätten, müsse man nicht gut finden, aber wenigstens versuchen zu verstehen. «Wir haben alle nur eine Kindheit und nur eine Biografie.»

Fremde im eigenen Land

Herzig ärgert sich, wie mit Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen – seien es administrativ Versorgte, Jenische, Verdingkinder – heute noch auf den Ämtern umgegangen werde. «Selbst in Bezug auf die sogenannte Wiedergutmachung richtet das Verhalten der Behörden neuen Schaden an. Ein zweites Mal stehen die Betroffenen vor einem anonymen Machtapparat, vor dem sie sich im übertragenen Sinne nackt ausziehen müssen. Betroffene müssen nachweisen, dass sie wirklich genug gelitten haben, um vom Bund die 25 000 Franken Wiedergutmachung zu erhalten.» Dafür müssten sie erneut alles durchgehen und würden im schlimmsten Fall retraumatisiert. «Es geht bloss darum, sicherzustellen, dass ja nur Geld erhält, wer genug gelitten hat. Das zu beurteilen ist eine Anmas­sung. Welchen neuen Schaden diese Bürokratie anrichtet, interessiert niemanden.» Allerdings seien die Behörden auch bloss ausführende Instrumente, so Herzig. «Wenn wir als Gesellschaft einen anderen Umgang mit Minderheiten wollen, können wir das ändern. Doch für Aussenseiter krümmt kein Mensch einen Finger …»
Wie wir mit Minderheiten und Fremden umgingen, definiere, wer wir selbst seien, sagt Herzig. «Wir definieren dauernd, wer NICHT zu uns gehört, damit wir wissen, wer wir sind.» Er finde schade, dass wir uns nicht primär über uns selbst definieren könnten, sondern stets nur durch Abgrenzung. «Es ist eine Frage des Selbstbewusstseins, der Selbstreflexion, aber vor allem auch der Selbsterkenntnis und -kritik.» Wir müssten ja nicht perfekt sein. Aber es sei zu einfach, immer nur zu sagen, «die anderen Länder» seien diesbezüglich noch viel schlimmer als wir, nur damit wir uns einem Problem nicht stellen müssten.

Die Position der Minderheiten

Sein neues Werk, an dem er arbeitet, widmet sich dem Thema Psychiatrie. Herzig interviewt unter anderem Menschen, die fürsorgerisch untergebracht, also zwangseingewiesen wurden und werden. «Ich will mit ihnen sprechen, nicht mit der Ärzteschaft über sie.» Er recherchiere aber auch bezüglich historischer Figuren: Schriftsteller wie Friedrich Glauser, Robert Walser, Adelheid Duvanel. «Diese Denkerin und Denker waren alle in der Psychiatrie. Da gibt es vielleicht ein Muster.» Ja, es habe bestimmt mit deren Denken zu tun … Seine Fragen lauten: «Hat sich heute etwas wesentlich verändert in der Psychiatrie? Wer definiert die Diagnosen, die Befunde? Warum erhalten die Patienten diese und jene Medikamente? Wer verdient daran?»

Betroffene im Unterricht

Michael Herzig unterrichtet angehende Sozialarbeiter an der ZHAW. Er lehrt nicht allein theoretisch. «Ich hole Obdachlose, psychisch kranke Menschen, Drogenabhängige in den Unterricht, die bereit sind, ihre Geschichte zu erzählen.» Es entstünden Gespräche, den Betroffenen werde zugehört. «Man muss mit den Menschen reden, nicht über sie.» Seine Arbeit wurde zu seiner Mission. So entstand auch das Buch «Landstrassenkind».

 

«Landstrassenkind – Die Geschichte von ­Christian und Mariella Mehr» von Michael Herzig. Limmat Verlag.


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