Im Zweifelsfall für die Tiere
Rüfenacht | Annemarie Özdemir-Lüthi engagiert sich seit mehr als 34 Jahren für Strassentiere. In der Türkei konnte und kann sie, gemeinsam mit Tierärzten, zahlreiche Tiere vor Krankheit und Tod retten, indem sie diese kastrieren, impfen und vor qualvoll langem Leiden bewahren. Auch hier engagiert sie sich.
Sie hat viel gesehen – doch ihr Herz strahlt aus ihren Augen: Die 74 Jahre alte Annemarie Özdemir, die im Emmental geboren wurde und ledig Annemarie Lüthi hiess, gibt niemals auf: «Nicht, wenn es darum geht, Tiere vor Leid zu bewahren», schmunzelt die im Wortsinn seelenvolle und gütige Frau. Und legt den Beweis gleich vor: Für die Tiere gab sie, nach 17 gemeinsamen Jahren mit ihrem Mann, gar ihre Ehe auf. Es sei nicht leicht gewesen, denn sie hätten es gut gehabt zusammen. «Doch mein Mann schämte sich nicht selten für mich, die Tierschützerin, da er manchmal auf meine Arbeit angesprochen wurde.»
«Die Tiere oder ich»
Ihr Ex-Mann Atila habe sie zwar verstanden, doch das Sich-für-sie-Schämen sei stärker gewesen. Er sei halt in einer anderen Kultur aufgewachsen. Denn in der Türkei gälten Tiere noch weniger als bei uns. Insbesondere Strassentiere, für die sich Annemarie Özdemir gleich nach ihrem ersten Türkeibesuch mit ihrem Mann, vor 34 Jahren, einzusetzen begann. Schliesslich habe ihr Atila eines Tages ein Ultimatum gestellt: «Die Tiere oder ich.» Was heute an dieser Stelle in einem Satz niedergeschrieben werden kann, war damals für das Ehepaar Özdemir nicht einfach. Denn wofür sich die elegante Katzenfreundin entschied, ist klar. «Wir pflegen noch heute einen anständigen Umgang miteinander.» Ihr Ex-Mann sei schliesslich in die Türkei zurückgekehrt, mit der Familie hat sie nach wie vor Kontakt.
Sie werde oft gefragt, weshalb sie nach der Scheidung ihren ledigen Namen nicht wieder angenommen habe. «Stellen Sie sich vor, ich komme mit meinem Schweizernamen in die Türkei und will dort vor Ort Tiere retten. Ich würde doch überhaupt nicht ernst genommen.» Dafür muss sie manchmal hierzulande in Kauf nehmen, vor allem von Menschen, die sie nicht kennen, angefeindet zu werden …
Das Elend der Tiere ist unbeschreiblich
Seit Brigitte Bardots grossem Engagement für Tiere – die berühmte Schauspielerin, die mit zweitem Namen auch Anne-Marie heisst, wurde im vergangenen September, als Annemarie Özdemir in der Türkei gerade Katzen aufpäppelte, 90 Jahre alt («Wenn man sich für etwas einsetzt, muss es extrem sein, sonst ist es umsonst») – wird das Wort «Tierschützerin» von manchen Menschen regelrecht ausgespuckt. Wie geht Annemarie Özdemir damit um? «Ich konzentriere mich auf das, was ich für die Tiere erreichen konnte und kann. Und das ist viel. Dafür bin ich dankbar.» Denn immer, wenn sie wieder Tiere retten konnte, ist sie zutiefst glücklich. Und diese Zufriedenheit wiederum gibt ihr Kraft. Aber wie geht sie mit dem grossen Elend um, das sie in der Türkei sieht? «Ja, das ist grauenhaft. Viele der Katzen haben entzündete Augen, andere sind blind, ausgemergelt, halb verhungert, verletzt.» Leid und Elend der Tiere seien unbeschreiblich. Durch eine neue Gesetzgebung in der Türkei hätten die Behörden nun gar begonnen, Strassenhunde auf grausamste Art und Weise abzuschlachten, selbst in Tierheimen. «Die Hunde werden teils noch lebend in Plastiksäcken in Containern entsorgt.»
Arche Noah Lebenshof
Jedes Jahr im September geht Annemarie Özdemir in die Türkei, um diesen Tieren zu helfen. Dann lebt sie in Burdur, auf dem Arche Noah Lebenshof, einem 2000 Quadratmeter grossen Grundstück mit hohen Mauern. Gemeinsam mit den Tieren und den Menschen, die ihnen helfen. Denn diese Auffangstation namens Arche Noah hat sie mitaufgebaut. «Gemeinsam mit den ehrlichen und fleissigen Menschen in Burdur, die für die rund 150 geretteten Strassenkatzen und 35 Hunde sorgen, sie liebevoll betreuen und sich um sie kümmern. Und dies 365 Tage im Jahr!» Diese Menschen würden auch die neu eingefangenen Tiere zu den Tierärzten vor Ort bringen, um sie zu pflegen oder zu kastrieren. «Ohne die richtigen Menschen vor Ort wäre es nicht möglich, diese wichtige Tierschutzarbeit dort zu leisten!»
Das meiste finanziert Annemarie Özdemir selbst. In Burdur fängt sie mit dem Team Katzen und manchmal auch Hunde ein – «das ist unglaublich schwierig, da einige der Tiere sehr scheu und wild sind. Man muss sie mit Futter anlocken und dann stundenlang auf der Lauer liegen», bringt sie zu Tierärzten vor Ort, die sie behandeln und natürlich, und das ist das Wichtigste, kastrieren, um noch mehr Leid zu verhindern. Es ist ein Tropfen auf den heissen Stein – doch wenn er nicht mehr Wasser ist, so ist er trotzdem Dampf …
Das Arche-Noah-Tierhilfsprojekt Burdur
Früher habe es keine Tierärzte in der Türkei gegeben. «Langsam ändert sich aber glücklicherweise die Einstellung zum Tier auch dort.» Aber auch daheim in der Schweiz kann die Tierfreundin nicht ruhen. Sie schreibt und verschickt regelmässig Briefe, sucht Geld für ihr Projekt, informiert Gönnerinnen und Gönner über den Stand der Strassentierhilfe. Früher habe sie öfter Bilder der grausam leidenden Tiere gezeigt (Anmerkung der Redaktion: Wir drucken diese Bilder hier nicht ab, aber sie liegen der Redaktion vor). «Doch viele Menschen wollen diese Bilder nicht sehen, verdrängen das Elend. Wahrscheinlich, weil es mehr als genug davon gibt.» Leider habe sie dadurch schon Sponsoren verloren. Und dies, obwohl die unermüdliche Tierschützerin dringend auf Spenden angewiesen ist. Sie garantiere mit ihrer ganzen Person und Persönlichkeit, sagt sie, «dass das Geld vollumfänglich den Katzen und Hunden in der Türkei zugutekommt». Jedes Mal, wenn Annemarie Özdemir in die Türkei reist, hat sie 70 Kilo nach Prioritäten zusammengestellte Tierhilfsgüter dabei, die dort nicht erhältlich sind. Wenn sie einmal nicht mehr da sei, so werde das Geld aus dem Haus, das sie in Rüfenacht mit zwei Katzen, die sie aufnahm, bewohnt, ins Projekt einfliessen. «Damit die Menschen dort die Möglichkeit bekommen, das Hilfsprojekt aufrechtzuerhalten.» Annemarie Özdemir hofft, dass sich dereinst jemand findet, der in ihre Fussstapfen treten und sich der Tiere erbarmen und annehmen werde. Und sie hofft, dass sich die Einstellung zu Tieren weltweit positiv verändert.
Bitte Katzen kastrieren
Die ledige Annemarie Lüthi wuchs auf einem Bauernhof im Weiler Ried auf. Doch schon als Kind habe sie intuitiv gewusst, dass es nicht richtig sei, wie Menschen mit den wehrlosen Tieren umgingen. Glücklicherweise komme sie aus einem einfachen, aber intakten Elternhaus. «Wir lebten sehr bescheiden. Meine Eltern lehrten uns Fleiss und Sparsamkeit. Wir hatten nicht viel, aber wir waren zufrieden. Wir mussten nichts erleben, was uns sehr negativ beeinträchtigt hätte.» Das sei ihr wichtig. Denn so lebe sie noch heute. Deshalb fährt sie kein Auto und verzichtet auf Ferien. «Ich stecke das gesparte Geld lieber in mein Tierhilfsprojekt.» Allein der jährliche Futterbedarf für die Tiere liege bei 19 000 Kilogramm. Eine Futterlieferung von 500 Kilogramm kostet um die 1100 Franken. «In der Türkei spendet niemand Geld für Tiere.» Sie bete jeden Tag, dass sie die Kraft erhalte, die sie für ihre Arbeit im Namen der Tiere benötige. Auch halte sie sich an das Weisheitsgebet: «Gott, gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Gelassenheit, jene hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.»
Auch für die Katzen hierzulande setzt sich Annemarie Özdemir ein. «Damit sie kastriert werden, damit es in der Schweiz in Bezug auf Katzen-Verwahrlosung – je länger, desto mehr – nicht wird wie in armen Ländern.» Die erfahrene Tierschützerin hat einen klaren, gesunden Menschenverstand. Wenn bei ihren Tieren Leiden ohne Aussicht auf Heilung besteht, so lässt sie diese durch den Tierarzt erlösen. «Auch das geht unter Tierliebe. Es soll kein Tier aus menschlich-egoistischen Gründen leiden müssen.» Wer Annemarie Özdemir kennt, mag die weise, starke und mutige alte Dame mit dem grossen Herzen für Mitmenschen und Tiere. Die sich als kleines Mädchen in die Katzenwesen verliebte. Eine Liebe, die sie nie mehr losliess, die Bestand hat wie wohl nichts sonst in ihrem Leben. «Schon als Mädchen versteckte ich die Kätzchen, die nach der Geburt hätten getötet werden sollen, unter der Bettdecke.» Klar, dass ihre Eltern dies nicht goutierten. Die Kätzchen seien schliesslich doch getötet worden. Der Grund: «Damals gab es kaum Geld, um kranke Menschen zu behandeln, umso weniger leistete man sich einen Arzt, um die Tiere kastrieren zu lassen. Das brach mir jedes Mal das Herz.» Zum abgeschlossenen diesjährigen Türkeieinsatz sagt sie: «Ich fühlte mich in der Türkei wie an Weihnachten hier. Für mich ist es ein grosses Geschenk, wenn wir Tieren helfen konnten. Für mich persönlich brauche ich keine Geschenke.» Ja, diese Frau meint es so. Sie ist nicht Franz von Assisi, obwohl sie mit den Tieren reden kann. Sie ist Annemarie Özdemir. Sonja L. Bauer
Strassentierhilfe Türkei: Arche Noah
Lebenshof, Zinet, Fira und Ebru, Burdur.
Katzenhaus Müyesser, Isparta.
Annemarie Özdemir-Lüthi, Siedlungsweg 13, 3075 Rüfenacht.
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VABECH22XXX