Lieber eine Schuluniform als besseres Essen
Oberland/Afrika | Nele lebt im Berner Oberland. Sie ist erst 17. Ihr enormes Engagement für andere beschämt hierzulande manch einen Erwachsenen – und beglückt Kenias Waisenkinder, die nicht einmal festes Schuhwerk haben, um sich der bissigen Sandflöhe zu erwehren.
Die Mädchen des Waisenhauses in Bungoma, einem Ort abseits von jeglicher grossen Stadt, können nicht zur Schule, wenn sie ihre Tage haben. Weil sie nichts haben, um das Blut aufzufangen. Die Kinder, die Nele, ihre Mutter Angela und Neles Freundin Alina in Afrika trafen, hatten von Sandflöhen, die im roten Sand Kenias zu Hause sind, verbissene Füsse, aber kein festes Schuhwerk, um sich dagegen zu schützen. Und sie leiden zwar keinen Hunger, sind aber zum Teil mangelernährt. «Trotzdem wünschen sie sich manches noch sehnlicher als bessere Nahrung», sagt die 17 Jahre junge Nele. Vor allem dieses: «Eine Schuluniform. Geld, um die Schulgebühren bezahlen zu können. Und Kugelschreiber.» Dinge, die zu haben in den grössten Teilen Europas selbstverständlich ist.
Das Waisenhaus ist ihr Daheim
Vor einigen Wochen kamen Nele, ihre Mutter Angela und ihr Vater Peter und Neles Freundin Alina aus Kenia zurück. Während Nele und Mutter Angela bereits fünf Mal vor Ort im Waisenhaus in Kenia waren, war der Vater zum ersten Mal mit dabei. Das Waisenhaus befindet sich ungefähr 13 Autostunden von Nairobi entfernt. «Dorthin zu gelangen, ist immer eine Herausforderung», so Angela. Um die Ware vor Ort zu transportieren, engagierte die Familie einen einheimischen Taxifahrer, der acht Jahre in Italien gearbeitet hat und somit die europäischen Ansprüche kennt: «Er weiss, dass er uns nicht Stunden warten lassen kann und dass er nur wieder engagiert wird, wenn er uns nicht übers Ohr haut», schmunzelt Angela. Er sei ein toller Fahrer und bleibe während ihres ganzen Aufenthalts mit ihnen vor Ort.
«Wir konnten den Kindern endlich die versprochenen Betten organisieren», sagt Tochter Nele. Vorher schliefen sie auf dem nackten Lehmboden. «Sie hatten nur Wolldecken mit Löchern im Kinderheim», so Nele. Durch Spendengelder aus der Schweiz konnten sie den über 40 Kindern nun 32 Betten kaufen, darunter 16 Doppelbetten. Angela: «In einem Doppelbett schlafen um die vier Kinder.» Man dürfe sich das nicht vorstellen wie bei uns. «Sie sind sich gewohnt, gemeinsam zu schlafen. Wir dürfen nicht von unserer Kultur ausgehen.» Auch gehe es nicht darum, diese Kinder an Adoptiveltern zu vermitteln, sie also auseinanderzureissen: «Sie sind dort daheim, das Waisenhaus und dessen Betreuerinnen und Betreuer und ihre vielen ‹Geschwister› sind ihre
Heimat.»
«So sehen wir aus?!»
Stets, wenn sie im Waisenhaus auftauchten, würden sie von den 3 bis 18 Jahre alten Kindern empfangen wie Könige. «Das ist uns manchmal etwas peinlich.» Dieses Mal hätten sich die Kinder über etwas besonders gefreut, das für uns in der «ersten Welt» selbstverständlich ist: «Wir haben ihnen Fotos von ihnen selbst ausgedruckt, die ich beim Besuch zuvor von ihnen geschossen habe», so Angela, die Fotografin von Beruf ist. «Die meisten haben noch nie ein Bild von sich selbst gesehen, geschweige denn besessen.»
Was es im Waisenhaus auch nicht gibt, ist Strom. «Manchmal ist es um 19 Uhr schon dunkel. Dann können die Kinder kaum noch Hausaufgaben machen.» Sie hätten bis spät nachmittags Schule und lange Schulwege. Es dunkle oft schon, bevor sie daheim seien. «Manche Kinder haben Kurbeltaschenlampen. Aber mit dem spärlichen Licht lässt sich kaum richtig lernen.» Sie, die Helfenden, hätten hin und her überlegt, was die beste und nachhaltigste Lösung für das Problem sei. «Leider können wir nicht, wie erst geplant, Solarpanels organisieren. Die würden sofort abmontiert, also gestohlen.» Auf jeden Fall sei das Legen von Stromkabeln das nächste Projekt.
Tagsüber habe Peter mit den grösseren Jungs Fussballtore gebaut. Dafür habe er extra Werkzeug mitgebracht. «Fussball bedeutet den Jungs dort viel!» Nach dem Bau der Tore habe es natürlich gleich Turniere gegeben. Alina indes bot den Kids Yoga an, machte Achtsamkeitsübungen. «Die Mädchen gaben weiter, was sie bei uns im Westen gelernt haben.» Sehr beliebt sei das Knüpfen von Freundschaftsbändern. Auch Sticken sei auf dem Tagesprogramm gestanden.
Wie aber kams, dass Nele und ihre Mutter zu diesem Projekt kamen? «Es war Neles Idee», so Angela. Mutter und Tochter fuhren 2021, Nele war damals 14, aufgrund einer Notsituation – der Tochter ging es zu der Zeit gesundheitlich nicht gut – für acht Wochen gemeinsam nach Kenia. «Wir dachten, eine gemeinsame Auszeit würde uns beiden guttun. Distanz zum Geschehen, zum Alltag, kann heilsam sein.» Nach zwei Monaten kamen die beiden wieder heim in die Schweiz. «In der Zeit in Afrika wurde Nele wieder gesund.» Zurzeit befindet sich die junge Frau im zweiten FaGe-Lehrjahr. Sie macht die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit.
Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen – die Kinder sind schon da
Weil Nele das Geschehen vor Ort so beschäftigt habe – «sie sah, dass die Menschen in Afrika, trotz der enormen Ressourcen, die dieses Land hätte, mit viel weniger auskommen müssen als wir in der Schweiz», so die Mutter –, habe sie den dringenden Wunsch verspürt, zu helfen. «Und sie nahm es unmittelbar in Angriff.» Sie sprach mit ihrer Freundin Alina und auf den Rat der Eltern gründeten die beiden den Verein Kenyayetu. Deutsch: Unser Kenia. Das Projekt war geboren.
Bereits in kurzer Zeit hätten die beiden jungen Frauen einige tausend Franken beisammengehabt. «Wir buken Kuchen, bestickten Stoff und vieles mehr, mieteten einen Marktstand und verkauften das Selbstgemachte», so Nele. Unterdessen konnte der Verein, dem Nele als Präsidentin vorsteht, mit den Spendengeldern das neue Waisenhaus bauen, wo zuvor nur eine einfache Lehmhütte stand. «Oder wir sammelten Geld, um junge Fruchtbäume vor Ort zu kaufen und zu setzen.» Ein Bananensetzling zum Beispiel koste um die 15 Franken. Mittlerweile wüchsen dort Obstbäume, welche die Kinder miternährten.
Die Familie hat hervorragende Ideen. Freundin Alina als nachhaltig lebende Veganerin liegt gerade die Ernährung am Herzen. Sie stärkt die afrikanischen Kinder in der von der Natur her freundschaftlich vorgesehenen Beziehung zu Tieren.
Fliegen die Mädchen mit der Mutter nach Nairobi, so mit meistens mindestens acht Koffern voller Hilfsgüter. Eines der Mädchen des Waisenhauses – «sie heisst Gift» – hatte eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. «Wir haben schliesslich explizit für sie einen Sponsor gesucht, der die Operation übernahm.» 300 Franken habe diese gekostet. «Für die Heimleitung wäre dieser Preis zu hoch gewesen. Das Paar ist schon froh, wenn sie den Kindern eine Heimat bieten können.» Jedes Kind, das im Heim lebe, sei ein Waisen- oder ein sogenanntes Verzichtkind. «Oft legen junge Mütter, die arm sind, ein Baby im Korb vor die Türe des Waisenhauses. Weil sie wissen, dass es dem Kind dort gut geht.» Das Heimleiterpaar sage jedes Mal, es könne nun keine Kinder mehr aufnehmen. Doch wenn ein Bébé vor der Türe liege, sage es natürlich: «Was sollen wir denn machen? Wir können und wollen das Kind ja nicht sterben lassen …»
Vital(is) kommt von Lebenskraft
Wie aber kam Nele zu ihrem Projekt? Wie fanden Tochter und Mutter das Kinderheim im Dschungel von Kenia? Auf ihrer ersten Reise trafen sie Vitalis, einen Afrikaner, der mit seiner Frau in Nairobi lebt und gemeinsam mit ihr das Kinderheim in Bungoma, in der Nähe des Viktoriasees an der Grenze zu Uganda, gründete und unterhält. Während Vitalis und seine Frau arbeiten, schaut die Mutter zu den Kindern des Ehepaars. Angela: «So ist es dem Paar möglich, den grössten Teil ihres Gehaltes in das Waisenhaus zu stecken. Sie geben alles, was sie können, für diese Kinder her.» Trotzdem reiche es kaum, dass alle Kinder ernährt werden könnten. «Die Waisen- oder Verzichtkinder haben es aber schön im Waisenhaus. Sie werden gut betreut und geliebt.» Natürlich seien die Ansprüche nicht mit den unseren zu vergleichen. «Sie haben kein WC im Haus, sondern draussen ein kleines ‹Kabäuschen›, ein Plumpsklo. Auch keine Dusche, sondern draussen kaltes Wasser im Krug zum Waschen.» Aber das solle auch so bleiben. So wie auch das Wasserloch, um Trinkwasser zu holen. «Sie kennen es so. Andere Projekte sind dringender.» Hat eines der Kinder oder Jugendlichen ein medizinisches Problem, so ist es weit bis in die nächste Stadt mit Krankenhaus. Nairobi ist gar gute 13 Autostunden weit entfernt. Wenn die Familie vor Ort ist, so nehmen sie mittels des engagierten Taxifahrers auch anfallende Arzt- oder Zahnarztbesuche in Angriff. «Er kennt die Gegebenheiten in Afrika, fährt uns sicher von einem Ort zum anderen, das ist viel wert.»
Schuhe sind ein grosses Glück
Schuhe in allen Grössen sammelten Nele und Alina. «Vor allem den grösseren Kindern und Jugendlichen wollten wir Turnschuhe kaufen, damit sie sich vor den beissenden Sandflöhen schützen können», so Nele. Für die kleineren Kinder gebe es von den Spenden stets etwas mehr Ware. Oft sammeln die Mutter und die Mädchen neben Schuhen, Kleidern, Spielzeug und Schulmaterial auch Geld, um die Schuhe – und andere Ware – vor Ort zu kaufen, weil dies etwas einfacher sei, als alles selbst mitzubringen. «Ein Paar Schuhe,
die hier um die 80 Franken kosten,
bekommt man in Nairobi für ungefähr 15 Franken.»
Das jüngste Projekt der beiden Frauen ist das Organisieren von Menstruations-Unterwäsche. «Tampons kennen sie dort nicht. Binden sind Mangelware.» Es gebe aber eine Apotheke in der Nähe, die habe diese Unterwäsche in guter Qualität. 33 Franken kostet ein waschbares Paar. «Die Mädchen haben dafür natürlich kein Geld. Also bleiben sie, wenn sie ihre Tage haben, dem Schulunterricht fern.» Mit dem Unterwäsche-Projekt wollen die jungen Schweizerinnen dies ändern. «Damit die Mädchen trotz Menstruation in die Schule gehen können und keinen Schulstoff verpassen. Genau wie wir hierzulande auch – und auch, damit sie den Jungs diesbezüglich ebenbürtig bleiben.»