Gemeindeversammlungen vor fast leeren Rängen
Demokratie | Dass Bürgerinnen und Bürger in Gemeinden die Möglichkeit haben, über das politische Geschehen in ihrem Wohnort mitzubestimmen, ist wohl den meisten bewusst. Machen tun es jedoch nur wenige.
Die Freie Wählergruppe Grosshöchstetten lancierte eine Initiative, die will, dass in Zukunft in Grosshöchstetten alle Abstimmungen an der Urne entschieden werden. Die von der Gemeindeverwaltung als gültig erklärte Initiative kommt für die Bevölkerung Grosshöchstettens zur Abstimmung, wenn bis am 19. August 2024 mindestens 304 Unterschriften in der Gemeinde gesammelt werden. Falls die Initiative letzten Endes angenommen wird, stellt sich die Frage, ob andere Gemeinden nachziehen werden. Denn: Beliebt sind Gemeindeversammlungen schon lange nicht mehr.
Abwärtstrend
«Wenn man die Beteiligung an Gemeindeversammlungen betrachtet, hat diese in den letzten 30 Jahren eindeutig abgenommen», sagt Martina Flick vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern. Dabei spielt die Grösse der Gemeinde keine signifikante Rolle. Die Rekrutierung von Kandidierenden für die Gemeindeexekutive sei schon seit Längerem schwierig, insbesondere für Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern, so Flick, «allerdings hat sich die Situation zwischen 2009 und 2017 zumindest nicht weiter verschärft». Dabei betreffen gerade politische Entscheidungen auf Gemeindeebene die Einwohner unmittelbar und jede einzelne Stimme hat ein deutlich höheres Gewicht bei Abstimmungen auf Gemeindeebene im Vergleich zu kantonalen Abstimmungen oder solchen auf Bundesebene.
Aktive langjährige Einwohner
Mit der abnehmenden Beteiligung an Gemeindeversammlungen geht auch die Frage einher, wer an diesen teilnimmt und wer nicht. Wie Flick sagt, sei die Frage, wer sich an Gemeindeversammlungen beteiligt, kaum untersucht. Es gebe eine Erhebung für eine Zürcher Gemeinde aus dem Jahr 2016. Diese zeige, dass die Stimmberechtigten, die an der Gemeindeversammlung teilnehmen, «älter und länger in der Gemeinde wohnhaft sind, sich stärker mit der Gemeinde verbunden fühlen, häufiger aktive Mitglieder in lokalen Vereinen sind, sich stärker für die Gemeindepolitik interessieren und sich auch häufiger an Urnenabstimmungen beteiligen». Wie Flick mit Bezug auf diese Studie erklärt, unterscheiden sich die Personen hinsichtlich Geschlecht, Ausbildung, Erwerbsstatus und Einkommen jedoch nicht vom Rest der Stimmbevölkerung.
Ein Blick auf die kommunalen Ämter zeigt, dass Männer deutlich stärker vertreten sind als Frauen, das Verhältnis beträgt etwa 70 zu 30. Übervertreten sind zudem die mittlere Altersgruppe, das heisst Personen zwischen 40 und 64 Jahren, und Personen mit einem tertiären Bildungsabschluss. Auch engagieren sich jene Personen häufig in lokalen Vereinen. «Zudem folgen viele Personen, die ein Milizamt ausüben, dem Beispiel eines Familienmitglieds», ergänzt Flick.
Gründe für Nichtbeteiligung
Ein bekannter Forschungsansatz unterscheidet drei Motive für die Nichtbeteiligung am politischen Geschehen. Das erste Motiv verweist auf einen Mangel an Ressourcen wie Zeit, Bildung oder Einkommen. Wenn eine Person zum Beispiel den ganzen Tag arbeitet und abends noch Essen für die Familie kocht, passt eine Gemeindeversammlung möglicherweise schlichtweg nicht in die Tagesplanung.
Der zweite Aspekt zielt auf die Motivation ab, das heisst auf das Interesse an der (Gemeinde-)Politik oder auch auf das Empfinden, auf politischer Ebene etwas bewirken zu können. Wer beispielsweise das Gefühl hat, dass die eigene Stimme kaum relevant für die Abstimmung ist, tritt wohl nicht den Weg zur Gemeindeversammlung an. Dasselbe gilt für eine Person, die sich schlichtweg nicht dafür interessiert, ob das vorgestellte Gemeindebudget oder eine neue Verkehrsführung angenommen wird oder nicht.
Und der dritte Teil bezieht sich auf die soziale Einbindung. Wie Flick sagt, dürfte es insbesondere bei der Übernahme kommunaler Ämter eine grosse Rolle spielen, ob eine Person aus ihrem Umfeld eine Anfrage für eine Kandidatur erhält. Dasselbe erscheine auch bei Gemeindeversammlungen plausibel. «Personen nehmen wohl eher daran teil, wenn ihr Umfeld ihnen signalisiert, dass ihre Teilnahme geschätzt wird.»
Zwar böten Gemeindeversammlungen gemäss Flick den Raum, politische Angelegenheiten direkt vor einer Abstimmung zu diskutieren, gleichzeitig dominierten vor allem Alteingesessene und ältere Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Versammlungen, und längst nicht alle Anwesenden ergriffen das Wort. Und anders als bei beispielsweise Urnenabstimmungen könne es bei Gemeindeversammlungen zu Mobilisierungsversuchen kommen, bei denen bestimmte Gruppen gezielt Leute zu einer Teilnahme bewegen, um ihrem Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen. So kann gerade bei öffentlichen Abstimmungen «ein gewisser sozialer Druck eine freie, unverfälschte Stimmabgabe erschweren», sagt Flick unter Berücksichtigung einer Studie.
Mehr Beteiligung fördern
Einen Vorteil der Urnenabstimmung im Unterschied zur Gemeindeversammlung sieht Flick in der Planung. Fänden Gemeindeabstimmungen am selben Tag statt wie kantonale Abstimmungen und solche auf Bundesebene, habe die Bevölkerung die Möglichkeit, sich gleichzeitig auf allen Ebenen zu beteiligen.
In der weiter oben genannten Studie über eine Zürcher Gemeinde ging es ebenfalls um die Frage, welche Massnahmen zu einer erhöhten Beteiligung am politischen Geschehen beitragen können. Die Beurteilungen der Massnahmen stammen dabei sowohl von Personen, die üblicherweise an Gemeindeversammlungen teilnehmen, als auch solchen, die das nicht tun. Flick erklärt, dass sich die Beteiligung an der Gemeindeversammlung durch Annehmlichkeiten wie Apéros oder Geschenke gemäss Studie nicht steigern liesse. Auch ein Wechsel zu einer geheimen Abstimmung brächte keine zusätzlichen Teilnehmer. Fänden die Versammlungen an Wochenenden statt, hätte dies eher negative Auswirkungen auf die Teilnahme. Dafür würden Nicht-Teilnehmer eher partizipieren, wenn sie von Freunden oder Bekannten dazu aufgefordert würden. Auch die konkreten Traktanden beeinflussen die Teilnahmemotivation. «Dies gilt insbesondere dann, wenn über das Budget und eine Erhöhung des Steuerfusses entschieden wird», sagt Flick. Wichtig ist, zu beachten, dass diese Studie sich auf eine einzige Gemeinde bezieht und eine Verallgemeinerung deshalb nicht angemessen ist.
Gestiegene Anspruchshaltung
Ein Akteur, der Partizipation fördern möchte, ist der Schweizerische Gemeindeverband. Er verfolgt unter anderem das Ziel, die Milizarbeit und das freiwillige Engagement der Zivilbevölkerung zu stärken. Beispielsweise hat er zu diesem Zweck 2019 zum «Jahr der Milizarbeit» erkoren. Passend dazu entstanden eine Webseite und eine Broschüre, die zeigten, wie sich die Bevölkerung in ihrer Gemeinde einbringen kann. Ebenfalls produzierte er ein entsprechendes Büchlein eigens für Schulkinder.Gemäss Christoph Niederberger, Verbandsdirektor des Schweizerischen Gemeindeverbands, sei Partizipation auf Gemeindeebene aus mehreren Gründen ein immer wichtigeres Thema: «Die gestiegene Anspruchshaltung beziehungsweise die Forderung nach Mitsprache und Gehör in der Gesellschaft führen dazu, dass sich mehr Menschen bei Themen, für die sie sich spezifisch interessieren, einbringen möchten», sagt Niederberger. Zudem trügen auch die Digitalisierung und damit einhergehend die Sozialen Medien dazu bei, dass sich neue Ideen und Forderungen rasch in der Bevölkerung verbreiten könnten. «Je früher die Bevölkerung zudem in Projekte einbezogen wird, desto geringere Opposition erwartet die Gemeindeverwaltung», erklärt Niederberger, «und desto eher kristallisiert sich heraus, welche Projekte einen breiten Rückhalt geniessen.»