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«Kuratieren ist meine Kunstform»

Thun | Helen Hirsch, Direktorin des Kunstmuseums Thun, war Flugbegleiterin und Psychiatriepflegefachfrau, bevor sie beruflich zur Kunst fand – beschäftigt hat sie sich damit aber von jeher. Seit 16 Jahren ist sie in Thun tätig, in dieser Zeit hat sich viel verändert.

| Sarah Wyss | Kultur
Niklaus Rüegg
Foto-Ausstellung Niklaus Rüegg: In «Préparations pour un miracle» entzieht Niklaus Rüegg dem Zirkus die Farbe. Foto: David Aebi/Kunstsammlung Stadt Zürich

Ein Clown liegt wie erschlagen da, sein Kopf steckt unter einem Mini-Zirkuszelt. Die Farben sind ihm abhandengekommen, ganz in Grautönen und schiefer Lage lehnt die Skulptur im Ausstellungsraum. Hinter einem Vorhang dringen Geräusche hervor, schnell und hektisch sind sie. Findet dort eine beschleunigte, leicht dystopische Chilbi statt? Es sind Werke internationaler Künstlerinnen und Künstler, die sich auf sehr unterschiedliche Arten mit Zirkus beschäftigen. «Für viele Menschen übt der Zirkus eine grosse Faszination aus», sagt Helen Hirsch. Sie ist Direktorin des Kunstmuseums Thun und hat die aktuelle Ausstellung mit dem Titel «Not My Circus, Not My Monkeys. Das Motiv des Zirkus in der zeitgenössischen Kunst» gemeinsam mit Kathrin Sperry entwickelt. Im Gespräch zeigt sich schnell, wie vielschichtig das Thema ist: «Für viele Menschen war der Zirkus eine erste Begegnung mit unterschiedlichen Kunstformen.» Akrobatik, Clownerie, Seiltanz, Zauberei oder Tierdressuren: Der Zirkus bietet in seiner Vielseitigkeit für alle Interessen etwas. «Es sind oft unvergessliche Momente für die Besuchenden, besonders für Kinder», sagt Hirsch. Das hätten auch viele der beteiligten Künstler und Künstlerinnen als Grund genannt, warum sie sich in ihrer Arbeit mit Zirkus beschäftigen.

Doch ganz so glanzvoll wie die meisten Besuchenden das Spektakel erleben, liest sich die Geschichte des Zirkus nicht. Lange seien im Zirkus Diskriminierung, Unterdrückung und Stigmatisierungen an der Tagesordnung gewesen, schreibt Hirsch im Vorwort des Ausstellungskatalogs. Darbietungen seien nicht kritisch hinterfragt worden. «Bis weit in das 20. Jahrhundert existierte die kommerzielle Zurschaustellung von Menschen mit körperlichen Fehlbildungen.» Einen Tiefpunkt in der Geschichte des Zirkus stellten die sogenannten «Völkerschauen» dar, bei denen Menschen aus anderen Regionen der Welt wie Tiere ausgestellt wurden. Dass viele von ihnen bereits auf der Reise starben oder aufgrund mangelnder Fürsorge schwer erkrankten, kümmerte die Zirkusdirektoren wenig. Darauf bezieht sich der Titel der Ausstellung: Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen – das ursprünglich polnische Sprichwort bezeichnet das Wegschauen, das Abweisen von Verantwortung. Der Zirkus als Motiv biete eine «Steilvorlage, um aktuelle, gesellschaftliche Konflikte vorzuführen, Stigmatisierungen zu entlarven, Machtstrukturen zu hinterfragen oder das Mensch-Tier-Verhältnis zu beleuchten», schreibt die Kulturwissenschaftlerin und Co-Kuratorin der Ausstellung, Kathrin Sperry. «Die Kunstschaffenden mögen sich auf den Zirkus berufen, doch eigentlich meinen sie die Welt.»

Keine Lesart vorgeben

Teppiche, Malereien, Skulpturen, Film, digitale Kunst: Wie der Zirkus will die Ausstellung allen etwas bieten. Es sind humorvolle, kritische und poetische Werke dabei, stürmische und ruhige. Keine Beschreibungen, Erklärungen oder Hinweise zur Interpretation begleiten sie. «Wir möchten keine spezifische Lesart vorgeben, sondern den Besuchenden die Möglichkeit geben, die Arbeiten auf ihre eigene Art zu erfassen. Es ist keine historische Ausstellung, zu der Hintergrundwissen oder eine Einordnung wichtig wären», sagt Hirsch. Wer sich dafür interessiert, ist mit dem Saaltext gut bedient. Ein tiefgreifenderes Bild gibt aus­serdem der Ausstellungskatalog: Nebst Informationen zu den Künstlerinnen und Künstlern und ihrem Schaffen bietet er historische, literarische und philosophische Perspektiven auf den Zirkus.

«Mir ist es wichtig, Themen aufzugreifen, die relevant sind. Das Kunstmuseum Thun soll eine Plattform für Diskussionen bieten, ein Freiraum ist für das Denken – auch für anderes Denken», sagt Hirsch. Ziel des Museums sei, die Menschen mit neuen Ideen und Gedanken in Berührung zu bringen. Das geschieht unter anderem mit einem Programm, in dem internatio-nale Kunstschaffende Platz finden. 

«Mit dem Schwerpunkt Landschaft, den das Kunstmuseum hat, versuche ich andere geografische Landschaften zu zeigen.» Dazu gehört für sie der politische Kontext: Wie ist es, an einem anderen Ort der Welt zu leben und Kunst zu machen? Im Sommer lief etwa die Einzelausstellung der indischen Künstlerin Reena Saini Kallat, die sich mit dem Thema Fluss als Grenze, Lebensader, als verbindendes wie als trennendes Element auseinandersetzt. «Es interessierte mich, das hier vor Ort in einen neuen Kontext zu setzen. In Thun ist der Fluss auch von grosser Bedeutung, so lassen sich Brücken schlagen zwischen den Kulturen.» 

Helen Hirsch hat eine beachtliche Laufbahn, die beispielsweise Stellen in der Kunsthalle Basel und der Kunsthalle Palazzo in Liestal beinhaltet. Zuvor hat sie freischaffend Kunstprojekte kuratiert und organisiert, viele grosse Galerien besucht sowie als Dozentin und Kunstkritikerin gearbeitet. Doch intellektuellen Dünkel sucht man bei Helen Hirsch vergebens. «Voneinander zu lernen finde ich das Wichtigste», sagt die Direktorin über ihre Tätigkeit. Aussagen wie diese könnten als Bescheidenheit ausgelegt werden, doch das allein würde ihr nicht gerecht. Helen Hirsch strahlt die Ruhe einer gebildeten und erfahrenen Person aus, die um ihr Können weiss, aber ebenso darum, dass dieses immer erweitert werden kann, dass das Lernen weitergeht. Eine mögliche Erklärung liegt in ihrem Privatleben: «Ich schätze den Luxus, Zeit zu haben.» Beim Wandern, Segeln oder Kochen findet sie Ruhe von ihrer anspruchs- und verantwortungsvollen Leitungsposition: «Natürlich mache ich Städte­reisen mit Galeriebesuchen, aber richtige Erholung erlebe ich mit Freunden und der Familie.» 

Immer politisch

Im Gespräch zeigt sich immer wieder: Kunst ist für Helen Hirsch nur bedingt eine museale Angelegenheit. Dafür ist ihr die Kunst zu nah. Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick in ihre Biografie. Aufgewachsen ist sie in Schweden. Früh kam sie in Kontakt mit Kunst: Ihr Grossvater war kunstaffin, er unterstützte unter anderem jüdische Kunstschaffende – Hirsch lernte Kunst von Anfang an als etwas Politisches kennen. Studiert hat sie vergleichsweise spät. Bevor sie mit 27 Jahren das Kunstgeschichte-Studium aufnahm, machte sie eine Ausbildung zur Psychiatrie-Pflegefachfrau, damals noch Psychiatrie-Krankenschwester genannt. Auch dort beschäftigte sie sich mit Kunst: «Ich kam mit der heilenden Wirkung der Kunst in Berührung.» Ihre nächste berufliche Station – sie arbeitete eine Weile als Flugbegleiterin bei der Swissair – kann als Teil ihrer künstlerischen Bildung verstanden werden. Sie erlaubte es Hirsch, Museen und Galerien auf der ganzen Welt zu besuchen. Nur auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass sie, die sich ihr Leben lang mit Kunst umgab, sich nicht selbst als bildende Künstlerin versuchte. Das Kuratieren sei eine eigene Art Kunst: «Vorausdenken, spüren, ob ein Werk hält, was es verspricht, und vermitteln, was die Künstlerinnen und Künstler aus-drücken – es ist eine kreative Arbeit.» 

Die Manege des KuMu

Die Ausstellung wirft Fragen auf, die auf das Museum, das sie beherbergt, miteinbezieht. Das Kunstmuseum Thun ist ein Ort der Zurschaustellung. Es ist Helen Hirschs Zirkus, es sind ihre Affen – und es liegt in ihrer Verantwortung, was in der Manege geschieht. Schliesslich gehören gewisse Problematiken, die in der Ausstellung thematisiert werden, nicht der Vergangenheit an. Sperry und Hirsch bewegen sich mit «Not My Circus, Not my Monkeys» in einem Diskurs, der zurzeit breit geführt wird. In den vergangenen Jahren ist der Druck auf Kulturinstitutionen gewachsen, die eigene Verantwortung zu hinterfragen und im Sinne der Gesellschaft wahrzunehmen.

Wie das Beispiel des Zirkus zeigt, war das lange nicht der Fall: «Das ist auch bei Museen noch nicht lange ein Thema», bestätigt die Museumsdirektorin. Da sie meist zumindest teilweise von öffentlichen Geldern finanziert werden, wird von Museen und Kunst- und Kulturinstitutionen vermehrt gefordert, ihre Zugänglichkeit zu hinterfragen: An wen richtet sich eine Ausstellung oder eine Veranstaltung? Ist das Angebot für Menschen inte­ressant, die sich im Leben nicht primär mit Kunst beschäftigen? Sind die Texte dazu für alle verständlich oder bestehen sie nur aus Fachausdrücken? Wer wird repräsentiert, wer darf ausstellen, wer bekommt keine Gelegenheit dazu? «Wir versuchen zu zeigen, dass das Museum ein offener Raum ist», sagt Helen Hirsch. Dazu gehört, Menschen einzubeziehen, deren Zugang bisher er-schwert war, zum Beispiel, weil sie aufgrund einer Behinderung auf andere Voraussetzungen angewiesen sind, um Kultur geniessen zu können. «Wir haben zwar das Label ‹Kultur inklusiv›, mit dem wir uns verpflichtet haben, die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu fördern, aber es gäbe dies­bezüglich noch viel zu tun.»

Steigende Ansprüche, gleiches Budget

Nicht nur sei das Bewusstsein für die verantwortungsvolle Rolle von Kulturinstitutionen gestiegen, auch sonst habe sich der Kunstbetrieb in den vergangenen Jahren stark verändert: «Der ganze Museumsbetrieb ist professionalisiert worden. Für meinen Beruf bedeutet das, dass das Kuratieren einen kleineren Teil meiner Zeit einnimmt, während administrative Arbeiten zugenommen haben. Die Teamsituation ist komplexer geworden: Heute sind viel mehr Menschen involviert, von Praktikanten über Kulturhistorikerinnen und Kunstvermittler.» Auch seien die Anforderungen an einen Ausstellungsraum gestiegen. Dass Museen einander gegenseitig Exponate aus ihren Sammlungen leihen, sei eigentlich üblich. Aber: «Die Ansprüche sind inzwischen sehr hoch, vom Transport über die Lichtverhältnisse und die Luftfeuchtigkeit muss alles tadellos sein. Manche Museen geben ihre Werke gar nicht mehr raus.» 

Das stelle ein Museum aus mehreren Gründen vor Herausforderungen. Einerseits sei es eine Kostenfrage. Der steigende Aufwand müsse irgendwie in das gleichbleibende Budget integriert werden. Andererseits rücke ein Faktor zunehmend in den Fokus: «Der Klimawandel kann in unserer Branche nicht ausgeklammert werden. Werke aus der ganzen Welt zu holen, ist nicht gerade klimafreundlich. Ich finde es wichtig, diesbezüglich kritisch zu sein.» Hirsch scheut sich nicht, an die Konsequenzen zu denken und diese anzusprechen: «Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen. Vielleicht bedeutet das, Abstriche zu machen und weniger Werke auszuleihen.»


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