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«Opfer sind nie mitschuldig»

Interview | Anna-Béatrice Schmaltz leitet bei der feministischen Friedensorganisation cfd die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Sie gibt Auskunft über die Kampagne und darüber, was geschlechtsspezifische, psychische Gewalt bedeutet.

| Adrian Hauser | Gesellschaft
Interview
Anna-Béatrice Schmaltz von der Feministischen Friedensorganisation cfd. Foto: Adrian Hauser

Was ist im Zusammenhang mit der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» alles geplant?
Anna-Béatrice Schmaltz: Es sind viele Veranstaltungen und Aktionen geplant, um Gewalt an Frauen und spezifisch psychische Gewalt in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Unser Ziel ist, dass man vertieft über diese Themen spricht. Wir arbeiten grundsätzlich mit einem Präventionsansatz. Denn wir sind überzeugt, dass wirkungsvolle Prävention nur möglich ist, wenn die nötige Sensibilisierung und das Wissen vorhanden sind. Wir wollen mit der Kampagne auch Betroffene ansprechen, um bei diesen die Beratungsstellen bekannter zu machen.

Es geht also um Sensibilisierung, aber auch um das Vermitteln von konkreten Informationen.
Ganz genau. Wir wollen Hintergründe aufzeigen und erklären, warum Gewalt überhaupt stattfindet. Und wir wollen gesellschaftspolitische Forderungen stellen. Die Themen Gewalt und Gleichstellung sind beispielsweise eng mitein­ander verknüpft. Fehlende Gleichstellung führt zwangsläufig zu mehr geschlechtsspezifischer Gewalt. Im Gegenzug zementiert geschlechtsspezifische Gewalt bestehende Ungleichheiten.

Wer beteiligt sich an der Kampagne?
Es beteiligen sich rund 200 Organisationen und Gruppierungen. Das sind Kirchgemeinden, Menschenrechtsorganisationen, feministische Kollektive, Aktivistinnen, Frauenvereine, gewisse Parteien, Fachstellen wie Frauenhäuser oder kantonale Koordinationsstellen gegen häusliche Gewalt. Die Kampagne ist sehr breit abgestützt.

Und Sie stellen den beteiligten Organisationen eine Art Werkzeugkoffer für eigene Aktionen zur Verfügung?
Ja, wir sind das Dach der Kampagne. Wir wollen gemeinsam mit allen Beteiligten ein Zeichen setzen und auf die Thematik aufmerksam machen. Durch die breite Abstützung erreichen wir sehr viele verschiedene Menschen. Nur wenn über Gewalt gesprochen wird, kann sie auch verhindert werden.

Es ist nun das 16. Jahr, in dem die Kampagne durchgeführt wird. Wie hat sich die Kampagne über die Jahre entwickelt?
Es beteiligen sich immer mehr Organisationen daran. Das Bewusstsein in der Öffentlichkeit für das Thema hat sich vergrössert.

Wurde in Bezug auf Gewalt konkret etwas erreicht? Ist diese allenfalls zurückgegangen?
Das ist schwierig zu sagen, da die vorhandenen Statistiken nur beschränkt darüber Auskunft geben. Es gibt das Hellfeld, das sind Fälle, die polizeilich gemeldet und in den Kriminalstatistiken erfasst wurden. Daneben gibt es die Dunkelziffern, worüber es in der Schweiz aber zu wenig Studien gibt. Wenn der Polizei mehr Fälle gemeldet werden, muss das nicht unbedingt heis­sen, dass es auch mehr Gewalt gibt. Es kann auch ein positives Signal sein und bedeuten, dass sich Frauen mehr Hilfe holen. Daher ist es grundsätzlich sehr schwierig zu sagen, ob geschlechtsspezifische Gewalt zu- oder abnimmt.

Was raten Sie Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt?
Wir ermutigen Frauen, die Gewalt erfahren, sich an Fachstellen zu wenden, also an eine Opferberatungsstelle. In einer akuten Bedrohungssituation sind die Polizei und Frauenhäuser erste Anlaufstellen.

Müssen sich Opfer erst bewusst werden, in welcher Situation sie stecken?
Ja, bei häuslicher Gewalt ist es oft ein schleichender Prozess. Die Täter reden den Betroffenen häufig ein, dass diese selbst schuld seien. Es handelt sich bei den Tätern meistens auch um Personen, die den Opfern sehr nahestehen und sich nach einer Eskalation entschuldigen. Zusätzlich sind vielleicht noch Verpflichtungen da wie ein Haus oder Kinder. In dieser Gewaltspirale ist Gewaltbetroffenen teilweise nicht mehr immer bewusst, dass die Situation nicht in Ordnung ist und dass sie das Recht auf ein gewaltfreies Leben haben. Wichtig ist, dass die Opfer wissen, dass sie nie mitschuldig sind und keine Verantwortung für erlebte Gewalt tragen. Dies gilt für alle Arten von Gewalt.

Ist es oft so, dass Opfer die Verantwortung auf sich nehmen?
Ja, auf jeden Fall. Gerade wenn der Täter jemand ist, der einem sehr nahesteht oder von dem jemand sogar abhängig ist. Ein Abhängigkeitsverhältnis kann bestehen, wenn Gewalt vom Chef ausgeht und man auf den Job angewiesen ist. Oder es gibt auch die Situation, dass der Aufenthaltsstatus von Frauen mit Migrationshintergrund an den Ehemann geknüpft ist. Bei einer Scheidung besteht die Gefahr, dass solche Frauen die Schweiz verlassen müssen. Es gibt im Gesetz zwar eine Härtefallregelung, aber die ist sehr schwammig formuliert. Für einen Härtefall muss eine «gewisse erlittene Intensität» der Gewalt vorliegen. Was aber heisst das? Heisst dies, dass ein «bisschen» Gewalt in Ordnung ist?

Was genau versteht man unter psychischer Gewalt?
Psychische Gewalt können Beschimpfungen sein, jemanden schlechtreden, ständige Kontrolle, Überwachung oder Stalking. «Gaslighting» ist auch ein Thema. Das bedeutet, dass jemand eine Situation herunterspielt und so die Betroffenen in der eigenen Wahrnehmung verunsichert. Jemand übt zwar Gewalt aus, stellt es aber gleichzeitig so dar, als würde dies gar nicht passieren. Für Betroffene ist es dann noch schwieriger, sich Hilfe zu holen, weil sie an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln. Psychische Gewalt ist häufig von aussen unsichtbar. Sie hat jedoch schwerwiegende Folgen für die Betroffenen.

Was kann eine Frau tun, die sich in einer solchen Situation befindet?
Die wichtigste Anlaufstelle ist immer eine Opferberatungsstelle. Die gibt es in allen Kantonen. Oft kann man sich auch telefonisch beraten lassen oder per Chat. In Bern gibt es «AppELLE», das ist eine 24-Stunden-Hotline der Berner Frauenhäuser.

Was kann man tun, um einen Gewaltkreislauf zu durchbrechen?
Man sollte nicht nur mit den Betroffenen arbeiten, sondern gerade auch bei geschlechtsspezifischer Gewalt mit den Tatpersonen, um deren Rollenbilder zu verändern. Wir reden von geschlechtsspezifischer Gewalt, wenn das Geschlecht und die Ungleichheit aufgrund des Geschlechtes bei der Ausübung von Gewalt eine Rolle spielen. Dabei fokussieren wir uns auf Frauen, die Täter sind allermeistens Männer. Es gibt natürlich auch Gewalt an Männern. Doch das ist nicht Bestandteil unserer Kampagne. Statistisch gesehen sind Frauen ganz klar stärker betroffen.

Wie häufig gibt es denn psychische Gewalt?
Über 40 Prozent der Frauen in Europa sind betroffen von psychischen Gewalt­erfahrungen. Für die Schweiz haben wir leider keine genauen Zahlen. Es bräuchte unbedingt finanzielle Mittel für Studien, um solche Zahlen zu erhalten. Denn es ist schwierig, Präventions­arbeit zu leisten, wenn wir keine verlässlichen Zahlen haben.

Was bräuchte es vonseiten der Behörden ausserdem noch, um die Situation zu verbessern?
Ein wichtiger Schritt war die Istanbul-Konvention, die in der Schweiz 2018 in Kraft trat. In dieser wird sehr breit aufgezeigt, was es alles braucht, um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern. Es geht um Prävention, Unterstützung, Schutz, Täterarbeit, finanzielle Mittel oder rechtliche Aspekte. Die Schweiz muss diese Konvention umsetzen, und wenn das alles umgesetzt ist, sind wir auf einem guten Weg. Eine Spezialität der Schweiz ist allerdings der Föderalismus, und dieser zeigt Schwächen auf, weil es kantonale Unterschiede gibt. Einige Kantone sind bereits sehr weit, andere hinken hinterher. Je nachdem, wo eine betroffene Person in der Schweiz also lebt, erhält sie ein anderes Mass oder eine andere Form von Unterstützung. Das dürfte eigentlich nicht sein. Man sollte schweizweit darum bemüht sein, dass es genug Anlaufstellen und genügend finanzielle Ressourcen gibt.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (Ersterscheinung im Magazin ENSEMBLE vom Oktober).


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