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Mit vereinten Kräften gegen Gewalt

Podiumsdiskussion | In Thun diskutierten verschiedene Fachpersonen über häusliche Gewalt und die Umsetzung der Istanbul-Konvention.

| Regula Portillo | Gesellschaft
Podium
Von links: Sim Eggler (Netzwerk Istanbul-Konvention, Brava), Marlis Haller (Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern), Flavia Wasserfallen (Moderation), Gian Beeli (Eidgenössisches Büro für Gleichstellung) und Lis Füglister (Interventionsstelle häusliche Gewalt des Kantons Bern). Foto: Adrian Hauser

Der Saal im Thuner Rathaus ist voll besetzt. Das Interesse an der Podiumsveranstaltung zum Thema «Istanbul-Konvention. Wo stehen wir? Massnahmen gegen geschlechtsbezogene und häusliche Gewalt im Kanton Bern und der Schweiz» ist gross. Dies sei womöglich auch der Anwesenheit von Bundesrätin Baume-Schneider geschuldet, scherzt Nationalrätin Flavia Wasserfallen, die durch den Abend führt. Vielleicht. Aber bestimmt nicht primär. Denn das Thema brennt. In der Schweiz werden durchschnittlich jeden Monat zwei Frauen im häuslichen Umfeld getötet. Pro Jahr erleben rund 30 000 Kinder Gewalt direkt mit, und ungefähr 20 000 Anzeigen werden bei der Polizei erstattet. Fast 50 000 Frauen suchen jedes Jahr die Opferberatungsstellen auf. Zahlen, die in aller Deutlichkeit aufzeigen, dass häusliche Gewalt bei Weitem kein Randphänomen ist.

Dringlichkeit anerkannt

Dass inzwischen auf höchster Ebene und mit bundesrätlicher Präsenz über häusliche Gewalt gesprochen wird, ist sicher auch dem 2018 erfolgten Beitritt der Schweiz zur Istanbul-Konvention zu verdanken. Die Istanbul-Konvention ist ein Übereinkommen des Europarats mit dem Ziel, jegliche Gewalt gegen Frauen zu verhindern, zu bekämpfen und zu ahnden. Alle unterzeichnenden Staaten sind dazu verpflichtet, Massnahmen in den Bereichen Gewaltprävention, Opferschutz und Strafverfolgung zu ergreifen. Auch die Schweiz. Zuständig für die Umsetzung sind Bund, Kantone und Gemeinden in enger Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Fachstellen und Organisationen, die den Grossteil der Unterstützungs- und Schutzangebote für Gewaltbetroffene gewährleisten. Die Länder werden regelmässig zum Stand der Umsetzung überprüft – und um es gleich vorwegzunehmen: Die Schweiz muss aufholen.

Zusammenarbeit und Erfolge

Nach dem Grusswort der Thuner Gemeinderätin Katharina Ali-Oesch stellt SP-Nationalrätin und heutige Moderatorin Flavia Wasserfallen die Podiumsteilnehmenden vor: Sim Eggler vom Netzwerk Istanbul-Konvention und der NGO Brava, die zum Thema Geschlecht und Gewalt arbeitet, Marlis Haller von der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern, Gian Beeli vom Fachbereich Gewalt des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau, und Lis Füglister von der Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt des Kantons Bern. Die Vernetzung und der enge Austausch zwischen NGOs und staatlichen Stellen gibt es erst seit dem Beitritt zur Istanbul-Konvention. Sowieso lassen sich die Bestrebungen in ein Vorher und Nachher einteilen. Dazwischen liegen Welten. Darüber, ob überhaupt ein Problem besteht, muss zum Glück nicht mehr diskutiert werden. Die Themen rund um häusliche Gewalt sind heute politisch, medial und gesellschaftlich präsent. Auf allen Ebenen ist in den letzten Jahren viel passiert. Zu den wohl wichtigsten Meilensteinen der vergangenen Legislatur gehört die Sexualstrafrechtsreform. Vom Parlament beschlossen, aber teilweise noch nicht umgesetzt sind auch eine nationale Präventionskampagne zu häuslicher Gewalt, eine nationale 24h-Beratungsstelle und schweizweite Krisenzentren, an die sich Betroffene für eine erste Soforthilfe wenden können.

Pragmatische Lösungen

Der politische Wille, Veränderungen anzugehen und Massnahmen der Istanbul-Konvention umzusetzen, ist da. Trotzdem muss nach wie vor viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Dies erläutert Gian Beeli am Beispiel der nationalen 24h-Beratung für Gewaltbetroffene, die von der Istanbul-Konvention vorausgesetzt wird, vom Parlament beschlossen wurde und 2025 eingeführt werden soll. Zur Umsetzung wurde vorgeschlagen, mittels Anrufbeantworter und Tasteneingabe den entsprechenden Kanton anzuwählen, um schliesslich mit der Opferhilfe des jeweiligen Kantons verbunden zu werden. Die Realität ist aber folgende: Eine Frau, die zu Hause Gewalt erlebt, kann nicht 20 Sekunden lang einen Telefonbeantworter abhören, bis ihr Kanton an der Reihe ist. Hier brauche es viel pragmatischere Lösungen und am besten eine dreistellige Nummer.

Mehr Ressourcen nötig

Auf dem Podium herrscht Konsens: Der Beitritt zur Istanbul-Konvention hat enorm viel bewirkt. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass im Kanton Bern und schweizweit noch sehr viel mehr getan werden muss. Nicht anders beurteilt das der Europarat, der überprüft, ob die Massnahmen gegen Gewalt im Sinne der Istanbul-Konvention umgesetzt werden. Die Schweiz muss dringend mehr finanzielle und personelle Ressourcen bereitstellen. Auch der Kanton Bern. «Jetzt wird sich zeigen, ob es Bern mit seinen Bemühungen ernst meint und wir nicht fürs Papier arbeiten», spricht Sim Eggler Klartext. Es darf nicht sein, dass von Gewalt betroffene Menschen in einem ersten Schritt darauf sensibilisiert und ermutigt werden, Hilfe und Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen, es in einem zweiten Schritt aber keine freien Plätze gibt. Um Massnahmen gut, verantwortungsvoll, nachhaltig und langfristig umzusetzen, braucht es mehr Ressourcen.

Lösungsorientierte Massnahmen

Eine im September veröffentlichte Studie der Kantonalen Konferenz der Polizeikommandantinnen und Polizeikommandanten der Schweiz zeigt zudem auf, dass es keine Korrelation gibt zwischen Migrationshintergrund und Gewaltbetroffenheit. Häusliche Gewalt betrifft alle Bevölkerungsschichten und Natio­nalitäten. So schildert Marlis Haller, dass in den Frauenhäusern der Anteil von Frauen mit Migrationshintergrund überwiege, die Beratungsstellen aber mit grosser Mehrheit von Schweizerinnen aufgesucht würden. Wichtig sei es, Schutzplätze und Beratungsangebote zu schaffen und allen zugänglich zu machen, hält Lis Füglister fest. In diesem Jahr habe der Regierungsrat des Kantons Bern 24 Massnahmen festgelegt, die zur Verbesserung der Situation beitragen sollen. Dazu gehören auch Angebote im Bereich der Bildung sowie Beratungsangebote für gewaltausübende Personen. Derzeit laufen mehrere Lernprogramme und Gesprächsgruppen, eine davon auch in Thun.

www.istanbulkonvention.ch

 

Was tut Thun?


Im Mai 2023 beschloss der Gemeinderat die Ausarbeitung eines Aktions- und Massnahmenplans zur Umsetzung der Istanbul-Konvention auf kommunaler Ebene. Einige Massnahmen laufen bereits, sind aber noch wenig koordiniert. Besonderes Augenmerk liegt auf: Sensibilisierung und Schulung der Mitarbeitenden in den Behörden, um Anzeichen von Gewalt zu erkennen und entsprechend zu handeln, einer flächendeckenden Prävention gegen Gewalt sowie dem Vorantreiben der Gleichstellung zwischen den Geschlechtern.

Regula Portillo


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