Spielerische Überforderung
Kommentar - Gaming und Social Media spielen bei Jugendlichen eine grosse Rolle. Das ist verständlich. Und heikel.
Kürzlich erinnerte ich mich daran zurück, wie ich als etwa Zehnjähriger mit meinen Freunden zusammen die rote Version von Pokémon auf dem Gameboy Pocket
gespielt habe. Das Spiel faszinierte mich total. Man konnte gegen Arenaleiter kämpfen, Pokémon fangen und ein ganzes virtuelles Land entdecken.
Gleichzeitig stellten wir uns damals vor, wie cool es doch wäre, wenn es viel mehr als nur 150 Pokémon gäbe und wenn jeder für sich zu Hause sitzen und doch die eigenen Pokémon gegen die Pokémon der Freunde antreten lassen könnte. Dann, über zwei Jahrzehnte später, setzte ich mich hin und spielte eine der aktuellsten Pokémon-Versionen auf der Nintendo Switch.
Das war überwältigend. All meine Wünsche und Visionen, wie sich das Spiel noch verändern könnte, wurden übertroffen. Mittlerweile existieren über tausend Pokémon. Man kann nicht mehr nur gegen Arenaleiter und andere Pokémon-Trainer kämpfen, sondern dank der Erfindung des Internets mit Menschen aus aller Welt Pokémon tauschen und sich miteinander messen. Die Figur, mit der gespielt wird, kann eine Schule besuchen und dort Dinge über Pokémon lernen. Sie kann auch Erlebnisse fotografieren und sich ein Sandwich kaufen. Und vor allem: Als Spieler besteht die Möglichkeit, verschiedene Handlungsstränge auszuwählen. Ganz abgesehen davon, dass die Spielewelt, in der die Figur herumwandert, gefühlt nirgends endet. Anders gesagt, das Spiel bietet enorm viele Möglichkeiten und ermöglicht so ein sehr individuelles Spielerlebnis.
Während das zehnjährige Kind in mir jubelte, fühlte ich mich hin- und hergerissen. Einerseits bin ich natürlich fasziniert und erfreut ob der vielen Möglichkeiten und Freiheiten im Spiel, die dank technologischer Fortschritte heute umsetzbar sind. Das Game ermöglicht einem gefühlt, nicht nur einen Pokémon-Trainer zu spielen, sondern wirklich einer zu sein. Das Selbstverwirklichungspotenzial innerhalb des Spiels ist wirklich enorm und machte mir die Beliebtheit von Gaming heute deutlich.
Andererseits verlangt diese (technologische) Entwicklung von den Spielern, mehr Entscheidungen treffen zu müssen. Das ist anstrengend. Vor allem, wenn viele Entscheidungen anstehen. Genau hier
treten Social-Media-Plattformen wie Tiktok auf die Matte. Deren Suchtpotenzial besteht eben gerade nicht in den vielen Entscheidungen, die User zu treffen haben. Je mehr Zeit jemand auf Tiktok verbringt, desto besser schätzt der Algorithmus ein, welche Inhalte der User wohl sehen will, und zeigt ihm diese dann. Ohne dass man etwas dafür tun muss, bieten Tiktok und Co. eine individualisierte Unterhaltung,
die durchaus Freude macht.
Wie die anekdotische Evidenz mit den Pokémon-Games zeigt, kann man sich in diesen Spielen aufgrund der vielen Möglichkeiten verlieren. Auf Social Media passiert das eher aufgrund der unendlichen Unterhaltung, für die nichts zu tun ist.
Mein zehnjähriges Ich wäre mit beidem überfordert gewesen. Aber verständlicherweise auch fasziniert.