Skip to main content

-


Anzeige


Beziehungsflammen und Like-Buttons

Interview • Dr. med. Stephan Kupferschmid, Chefarzt und Zentrumsleitung vom Psychiatriezentrum für junge Erwachsene (PZJE) in Thun, erklärt, wie eine Onlinesucht entstehen kann und welche Rolle Algorithmen dabei spielen.

| Thomas Abplanalp | Gesellschaft
Digitale Endgeräte
Ständige Begleiter im Alltag: Smartphones, Computer und co. Pixabay

Was ist eine Onlinesucht?

Dr. med. Stephan Kupferschmid: Anders als eine Nikotin- oder Alkoholsucht ist die Onlinesucht eine nicht-stoffgebundene Sucht. Sie ist vergleichbar mit der Spielsucht. Wenn eine Person im Casino Geld in einen Spielautomaten einwirft, dann kann das einen Dopamin-Kick auslösen. Schliesslich besteht in jeder Runde die Möglichkeit eines Gewinns. Das heisst, nach jeder Runde folgt ein neuer Dopamin-Kick. Der Person fällt es schwer, mit dem Spielen aufzuhören. Das kann so weit gehen, dass sie ihre Familie finan­ziell ruiniert.
Bei Social Media sieht die Situation ähnlich aus. Die Plattformen sind gemacht, um Aufmerksamkeit zu generieren. Die User sollen möglichst viel Zeit auf ihnen verbringen, damit sich die Werbeeinnahmen mehren und personenbezogene Daten gesammelt werden. Zu diesem Zweck erkennen die Algorithmen die Interessen der angemeldeten Person und zeigen ihr noch mehr Inhalte, die sie interessieren. Social-Media-Plattformen sind sozusagen Aufmerksamkeitsstaubsauger.
Ein Beispiel dafür ist Snapchat. Eine Flamme zeigt in dieser App die Intensität des Kontakts zwischen zwei Personen an. Je mehr diese zwei Personen miteinander interagieren, desto stärker wird die Flamme. Diese Art der Belohnung sowie auch die Hoffnung, auf anderen Apps mit einem Post möglichst viele Likes zu generieren, lösen ebenfalls einen Dopamin-Kick aus.

Warum ist das Suchtpotenzial bei So­cial Media grösser als beim Lesen eines ­Romans?

Bereits im 18. Jahrhundert wurden viele Liebesromane veröffentlicht. Das Zielpublikum waren vor allem jüngere Frauen. Tatsächlich stand die Befürchtung im Raum, dass sich die jungen Frauen in diesen Geschichten verlieren könnten. Dasselbe galt im vergangenen Jahrhundert für das Fernsehen. Diesem wurde nachgesagt, die Leute zu verblöden. Anscheinend besteht gegenüber neuen Medien anfangs immer eine gewisse Skepsis.
Anders als Liebesromane oder das Fernsehen bauen Social Media eine grös­sere Nähe zu den Benutzern auf. Durch die Algorithmen findet eine gezielte Steuerung der User statt, um diese noch länger an die App zu binden. Bei der Tabakindustrie ist die Situation übrigens ähnlich.
Welche Anzeichen deuten auf eine Sucht hin?
Hier sind die typischen Anzeichen einer Suchterkrankung zu nennen: Eine Person verspürt einen grossen Drang zu konsumieren, sie möchte immer mehr davon konsumieren, trotz negativer Konsequenzen konsumiert sie weiter und sie vernachlässigt andere Dinge in ihrem Leben. Als Beispiel dient ein junger Lehrling, der während seines Arbeitstags auf die Toilette geht und dort eine Stunde am Stück am Smartphone herumdrückt und seine Arbeit vergisst. Wichtig zu beachten ist jedoch, dass die Bildschirmzeit allein noch nicht auf eine Sucht schliessen lässt.

Wie entsteht eine Sucht überhaupt?

Das biopsychosoziale Modell geht davon aus, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren eine Rolle bei der Entstehung einer Krankheit spielen. Zum Beispiel beeinflusst das familiäre Umfeld je nach Situation ein risikoarmes beziehungsweise risikoreiches Verhalten. Oder Menschen, die stark auf eine Dopaminausschüttung ansprechen, neigen eher dazu, ein Suchtverhalten zu entwickeln, da sie gerne und aktiv nach einem nächsten Kick suchen. Letzteres trifft grundsätzlich mehr auf Jugendliche als auf Erwachsene zu. In einer Untersuchung wurden Probanden Sätze abgespielt. Die Aussage «Ich möchte gerne mit Haien schwimmen» löste bei Jugendlichen signifikant mehr Interesse aus als bei Erwachsenen. Je nach Patient dient die Psychotherapie dann auch dazu, eigene Impulse besser kontrollieren zu können.

Für sehr viele Jugendliche stellen Social Media einen wichtigen Teil ihres Sozialisierungsprozesses dar. Begünstigt das eine Onlinesucht?

Eine bekannte Studie aus der Schweiz zeigt: Jugendliche nutzen Tiktok als Leitmedium und die meisten kommen gut damit zurecht, konkret 80 Prozent. Zudem verdeutlicht die Studie, dass Jugendliche, die im Analogen viele soziale Kontakte haben, auch im Digitalen ein grosses Netzwerk pflegen.
Die Probleme, aufgrund derer die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unsere Klinik kommen, sind schwerwiegend und real. Und diese Probleme beeinflussen manchmal ihr Onlineverhalten. Zum Beispiel besteht die Gefahr, im Digitalen gefährliche Kontakte aufzubauen. Aufgrund der Algorithmen passiert es schnell, dass eine Person, die sich für das Thema Ernährung interessiert, in kürzester Zeit zu Beiträgen über Diäten gelangt und schliesslich zu einem Anorexieforum. Das wiederum beeinflusst dann möglicherweise das reale Verhalten der Person.
Hinzu kommt, dass Apps wie Tiktok die Konzentrationsfähigkeit beeinflussen. Und sie sind nicht kostenlos: Sie ziehen die Aufmerksamkeit an sich, die Werbeanzeigen verführen zum Kauf verschiedenster Produkte und sie sind zeitintensiv.
Jugendliche und junge Erwachsene, die sich stationär bei uns befinden und einen problematischen Umgang mit dem Smartphone pflegen, können ihr Smartphone aus diesen Gründen während der Nacht bei uns abgeben, wenn sie das möchten.
Schlaf ist aktuell sowieso ein grosses Thema. Auch aufgrund ihres Smartphone­konsums haben viele Jugendliche keinen gesunden Schlaf mehr. Die geregelte
Tagesstruktur in unserer Klinik hilft den Patienten, abends besser zur Ruhe zu kommen. Neben einer Tagesstruktur helfen Menschen auch entspannende Abendrituale oder eben schlafhygienische Massnahmen wie das Weglegen des Smartphones, um besser schlafen zu können.
Nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung der Ernährung und Bewegung. Wenn sich eine depressive Person dreimal wöchentlich 40 Minuten körperlich betätigt, wirkt sich das fast so positiv auf die Gesundheit aus wie Medikamente.

Wie können Erziehungsberechtigte risikoreichem Verhalten ihrer Kinder gegensteuern?

Kürzlich wurden klare Empfehlungen zur Mediennutzung im Kindes- und Jugendalter veröffentlicht, die auf Studien beruhen. Kinder im Alter von null bis drei Jahren sollten grundsätzlich keine Bildschirmzeit haben. Zwischen drei und zwölf Jahren steigt die empfohlene maximale Bildschirmzeit unter Begleitung der Erziehungsberechtigten auf bis zu einer Stunde pro Tag (bei Zwölfjährigen). Und 16-Jährige sollten in ihrer Freizeit höchstens zwei Stunden täglich vor Bildschirmen sitzen.
Die Realität sieht anders aus: Viele Jugendliche verbringen rund sechs Stunden täglich vor Bildschirmen und mobilen Geräten. Diese Zahl zeigt, wie wichtig es ist, dass Eltern versuchen, Einfluss zu nehmen, und gewisse Einschränkungen umsetzen, wie beispielsweise keine Bildschirmzeit vor dem dritten Lebensjahr. Dasselbe gilt für das eigene Smartphone. In der dritten Klasse braucht ein Kind kein eigenes mobiles Endgerät, selbst wenn alle anderen in der Klasse eines besitzen. Zudem sollten Erziehungsberechtigte Interesse daran zeigen, was ihre Kinder am Smartphone machen, und mit ihnen darüber ins Gespräch kommen. Ausgehend davon können innerhalb der Familie medienfreie Zeiten und gemeinsame Aktivitäten geplant werden.


Ihre Meinung interessiert uns!


Verwandte Artikel


Anzeige