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Onlinesucht verhindern

Gesundheit • Das Internet und digitale Endgeräte ermöglichen Unterhaltung, Kommunikation, einen Zugang zu Informationen, und sie unterstützen nicht wenige Menschen bei ihrer Arbeit. Gleichzeitig bergen sie ein grosses gesundheitliches Risiko. Doch dieses lässt sich verkleinern.

| Thomas Abplanalp | Gesellschaft
Kinder am Handy
Ständige Begleiter im Alltag: Computer, Tablets und Smartphones. Pixabay

Gemäss einem Synthesebericht im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) waren fast sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren im Jahr 2022 von einer problematischen beziehungsweise risikoreichen Internetnutzung betroffen. In absoluten Zahlen bedeutet das etwa 500 000 Personen. Am meisten betrifft das die 15- bis 24-Jährigen mit 22,2 Prozent. Heute dürften es wohl noch mehr sein. Auch die Anzahl digitaler Endgeräte pro Haushalt stieg in den vergangenen Jahren an. Nicht überraschend erscheint deshalb diese Zahl: 62 Prozent der Kinder zwischen 6 und 13 nutzen das Internet mindestens einmal pro Woche. Im Jahr 2015 waren es noch 41 Prozent.
Der Bericht verweist im Zusammenhang mit Onlinesucht auf einen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. Medizinisch sind aktuell nur die Video­spielnutzungsstörung und die Geldspielstörung als Verhaltenssucht anerkannt. Die Behandlungsrealität zeige aber auch andere Suchtverhalten wie Social Media, Pornografie oder Onlineshopping. Deshalb empfiehlt der Expertenbericht, von einem «Kontinuum der Verhaltenssüchte» zu sprechen.
Zudem stellt er den Ausdruck Onlinesucht in Frage. Denn es ist nicht das Medium, das die Sucht auslöst, sondern die Anwendungen. Eine Person ist somit nicht internetsüchtig, sondern zeigt problematische Verhaltensweisen durch die Nutzung internetbasierter Anwendungen. Als Alternative schlägt der Bericht die Formulierung «suchtartiges Onlineverhalten» oder «problematische/risikoreiche Bildschirmnutzung» vor.
Und eine grosse Herausforderung der Gesellschaft besteht heute darin, den Umgang mit diesen psychoaktiven digitalen Angeboten zu erlernen.

Gaming und Social Media

Der Videospielmarkt entwickelt sich ständig weiter. Die Industrie nutzt psychologische Mechanismen, um an mehr Geld zu gelangen. Beispielsweise ermöglichen In-Game-Käufe, im Spiel auf verschiedenste Weise weiterzukommen. Auch dadurch verschmelzen Gaming und Glücksspiel mehr und mehr. Und auch Onlineshopping bietet häufig eine verführerische Möglichkeit, spielerisch zu mehr Produkten zu gelangen oder diese vermeintlich günstiger erwerben zu können. Anders gesagt schafft die Industrie bei ihren Kunden durch Gruppen- und Zeitdruck und Belohnungsanreize Quasi-Bedürfnisse. Man spricht hier von «addiction by design».
Der Bericht hält jedoch fest, dass (Online-)Gaming nicht per se zu verteufeln sei. Studien zeigen nämlich Anzeichen dafür, dass Gaming zu einer Verbesserung der mentalen Gesundheit führen kann, da es psychologische Grundbedürfnisse erfüllen kann. Dazu gehören ein Gefühl der Verbundenheit, Autonomie und Kompetenz. Ganz abgesehen von der Stärkung gewisser kognitiver Fähigkeiten.
Ein täglicher Begleiter vieler Leute sind Social Media. Gerade für Jugendliche stellen Social Media einen wichtigen Faktor im Sozialisierungsprozess dar. Gleichzeitig findet dieser Sozialisierungsprozess auf Social Media in kommerzialisierten Räumen statt, was viele nicht bewusst wahrnehmen. Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen nutzen Social Media zu Informationszwecken. Und viele sehen darin auch eine Flucht vor negativen Gefühlen, weil sie auf Social Media das zu sehen bekommen, was sie vermeintlich sehen wollen. Auf der anderen Seite haben bereits 40 Prozent der jugendlichen Social-Media-Nutzer versucht, weniger auf Social Media zu sein. Ohne Erfolg. Eine Schattenseite von Social Media zeigt sich beispielsweise in der ambulanten Beratung. Dort werden Social Media mit ihren Schönheitsidealen, Vergleichsmöglichkeiten und Rollenmustern als möglicher Treiber für Essstörungen erlebt.

Berufswunsch Influencer

Was vor wenigen Jahren noch als Witz galt, ist heute Realität. Viele Jugendliche haben als Berufswunsch Influencer. Das liegt vielleicht auch daran, dass mittlerweile sogar KI-generierte Influencerinnen erfolgreich sind. Jugendliche ahmen den Tonfall ihrer liebsten Influencer nach. Die Rolle und Verantwortung der Influencer kann also nicht hoch genug geschätzt werden.
Auch die familiären und sozialen Ressourcen und auch die Schule tragen eine grosse Verantwortung. Der Bericht verweist auf eine Studie, gemäss der Jugendliche eine tiefere Smartphonezeit haben, wenn sie sich in der Schule integriert fühlen und mehr elterliche Unterstützung erhalten.
Das bedeutet aber nicht, dass eine lange Bildschirmzeit automatisch bedeutet, dass jemand süchtig ist. So etwas wie ein eindeutiges Krankheitsbild existiert bei Bildschirmnutzung nicht. Dafür spielen zu viele Faktoren eine Rolle: Die individuelle Veranlagung, die gesellschaftlichen und familiären Rahmenbedingungen, die berufliche und finanzielle Situation. Und nicht vergessen werden darf die Angst vieler, etwas zu verpassen. Oder modern gesprochen: FOMO, Fear of missing out. Letzteres gilt als einer der grossen Prädiktoren für eine exzessive Nutzung
digitaler Geräte.
Wenigstens, so hält der Bericht fest, habe in den vergangenen Jahren bereits eine bessere Sensibilisierung stattgefunden.

Schule, Lehrpersonen und Eltern

Einen wichtigen Einfluss auf die Förderung eines risikoarmen Onlinekonsums kann die Schule nehmen. In diesem Kontext ist es aber wichtig, den Einsatz digitaler Medien für schulische und private Zwecke voneinander zu unterscheiden. Ersteres bedeutet konkret, dass Kinder und Jugendliche in ihrem Schulalltag mit digitalen Schulgeräten und Anwendungen in Kontakt kommen und mit diesen lernen. Das­ Zweite bezieht sich auf das von der Schule unabhängige Nutzungsverhalten digitaler Medien. Man denke an Gaming und Social Media. Vor allem hier besteht die Gefahr, ein risikoreiches Konsumverhalten zu entwickeln. Gemäss Marcel Marti von der Pädagogischen Hochschule PHBern könnten Schulen und Lehrpersonen in zweifacher Hinsicht wirken, wenn Schülerinnen und Schüler beim privaten Onlinekonsum ein risikoreiches Verhalten zeigen: Prävention und Intervention.
Bei der Prävention und auch Sensibilisierung gehe es nicht nur um den Medien- und Informatikunterricht. Auch in der Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten und im Lehrpersonenkollegium sollte dem Thema Gewicht zukommen. «Deshalb organisieren mittlerweile immer mehr Schulen auch Informationsanlässe, um Eltern in die Prävention einzubinden», so Marti. Die Einbindung der Eltern sei essenziell, denn Lehrpersonen komme im Zusammenhang mit dem Erkennen von Suchtverhalten vor allem die Rolle eines Frühwarnsystems zu. Da sie tagtäglich mit den Schülerinnen und Schülern zu tun haben, fallen ihnen auch Verhaltensänderungen auf.
Hier beginnt dann die Intervention. «Wenn Lehrpersonen ein Suchtverhalten auffällt, müssen sie wissen, mit welchen Schritten sie Fachleute einbinden können», sagt Marti, «damit diese intervenieren und bei der Suchtbewältigung helfen können.» Lehrpersonen seien dann vor allem in der Pflicht, das Elternhaus der Kinder oder Jugendlichen zu kontaktieren und die Problematik zu thematisieren. Falls sie hier an Grenzen stiessen, müssten sie weitere Schritte einleiten, beispielsweise über die Schulleitung und schliesslich über die Sozialbehörden wie die KESB.

In Medienbildung ausbilden

Die PHBern sensibilisiert angehende Lehrpersonen in ihrer Ausbildung für eine aktive und reflektierte Mediennutzung beziehungsweise -pädagogik. Allein schon deshalb, weil die Medienbildung heute bereits im Kindergarten beginnt und Medien und Medienkonsum Teil der Lebenswelt schon kleiner Kinder sind.
Die Ausbildung von Lehrpersonen behandelt das Thema auf allen Stufen breit. Die angehenden Lehrpersonen setzen sich mit Digitalität im Zusammenhang mit Medienkompetenz auseinander. Sie lernen, risikoreiche Verhaltensmuster zu erkennen, die auf eine Sucht hindeuten. Sie behandeln das Thema Suchtentwicklung und Prävention aus der gesundheitlichen Perspektive. Und in Zusammenarbeit mit Fachstellen werden sie für Situationen sensibilisiert, in denen sie weitere beziehungsweise externe Unterstützung hinzuziehen
sollten.
Für Unterrichtsberatungen von Lehrpersonen und im Unterrichtskontext ist in der Weiterbildung an der PHBern das Team Medien und Informatik zuständig. Zudem stellt die Hochschule auch zahlreiche Unterrichtsmaterialien zur Verfügung und fördert durch eigene Forschungstätigkeit die Auseinandersetzung mit der Thematik.

Workshops und Herausforderungen

Um Jugendliche vor einer Onlinesucht zu schützen, helfen präventive Massnahmen. Eine wichtige Anlaufstelle in der Region ist in diesem Zusammenhang das Blaue Kreuz Bern-Solothurn-Freiburg. Das Ziel der Präventionsarbeit des Blauen Kreuzes besteht darin, Jugendliche und Erwachsene zum bewussten Konsum zu befähigen. Das bedeutet auch, zu wissen, wo und wann sich ein Konsumverzicht anbietet und wo externe Hilfe zu finden ist.
Dafür bietet das Blaue Kreuz unter anderem Präventionsworkshops in Schulen für Klassen der Sekundarstufe I und II an. «In den Workshops greifen wir das Thema auf, wenn wir merken, dass ein Bedarf besteht», sagt­
Claude Knöpfel, Produktverantwortlicher Workshops vom Blauen Kreuz Bern-Solothurn-Freiburg. Beispielsweise helfe die gemeinsame Reflexion von Alltagssituationen dabei, ein Bewusstsein für einen risikoreichen Konsum zu schaffen. Gerade in der
7. Klasse sei es relativ einfach, einen Vorher-Nachher-Vergleich aufzuzeigen. Viele Kinder im zweiten Zyklus besitzen noch kein Smartphone. Ab dem dritten Zyklus ändert sich das jedoch schnell. Bei diesem Vergleich diskutieren die Workshop-Leiter mit den Jugendlichen unter anderem, wie sich die Zeit am Smartphone reduzieren lässt. «Wichtig ist, zu betonen, dass das Smartphone Bestandteil der Lebenswelt ist», so Knöpfel, «es geht dabei um Zugehörigkeit, aber auch um die Frage, was verloren geht, wenn man zum Beispiel auf Social Media nicht aktiv ist.» Viele verwendeten das Smartphone zur Unterhaltung, Kommunikation, Organisation und Arbeit.
Jugendliche und Erwachsene, die Herausforderungen mögen, können zudem an der Challenge Time:out
(timeoutschweiz.ch) mitmachen. Diese Challenge bietet die Möglichkeit, sich zu einem konkreten Thema herausfordern zu lassen. Eine Herausforderung besteht in der Reduktion der eigenen Bildschirmzeit. Dabei können Teilnehmende schlechte Gewohnheiten ändern, verschiedene Dinge neu schätzen lernen, sich auf anderes fokussieren und grundsätzlich zufrieden mit sich sein.
Time:out findet während der offiziellen Fastenzeit vom Sonntag, 9. März, bis am Samstag, 19. April, oder während eines selber gewählten Zeitraums statt.

Vorzeigen und nachmachen

Obschon der Fokus der Präven­tionsarbeit des Blauen Kreuzes auf den Themen Alkohol und Nikotin liegt, gewinnt die Onlinesucht in den Workshops an Bedeutung. «Onlinesucht wird nach meinem Dafürhalten in den kommenden Jahren nebst den Alltagsdrogen Alkohol und Nikotin zu unserem grössten gesellschaftlichen Suchtproblem werden», so Knöpfel. Deshalb sei es auch wichtig, Onlinesucht nicht nur als Jugendthema zu betrachten. Erziehungsberechtigte und Erwachsene im Allgemeinen übernehmen eine Vorbildfunktion. «Bekanntermassen ist das Vorzeigen-Nachmachen eine wichtige Lernmethode», sagt Knöpfel, «Kinder machen nach, was Erwachsene tun.» Deshalb sollten auch Erwachsene ihren Umgang mit Bildschirmen und Onlinemedien hinterfragen und sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein. Das thematisiert das Blaue Kreuz auch an Elternabenden und Vorträgen.
Neben den gesundheitlichen Folgen eines risikoreichen Verhaltens sei es auch wichtig, die wirtschaftlichen Interessen der grossen Datenkraken wie Meta oder Tiktok zu thematisieren. Dazu gehört auch ein Verständnis für die Funktionsweise der Algorithmen, die Social-Media-Apps zugrunde liegen. Ganz abgesehen von vermeintlichen Idealen, Cybermobbing und Fake-
News, die das Internet fluten. «Dass immer mehr Schulen Smartphones verbannen, finde ich richtig und wichtig», so Knöpfel, «aber mit Verboten allein lässt sich die Herausforderung nicht lösen.»


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