«Leben ist ständige Verführung»
Literatur | Jedes Jahr wird eine Flut von neuen Büchern aus dem Verlags- und Eigenverlagsmeer in Buchhandlungen und Medien gespült. Manche dieser literarischen Werke sind wirklich gut, anderen merkt man an, dass die Autorin, der Autor «einfach mal ein Buch schreiben wollte». Diese Bücher tragen dazu bei, dass wirkliche Perlen in dieser Flut versinken. Das ist schade. Bettina Gugger schreibt Bücher, die man bergen muss.
Im Flamenco gibt es einen Ausdruck, der da heisst: «Soy Flamenco» – «Ich bin Flamenco». Künstlerinnen und Künstler und echte Flamenco-Aficionados (Flamenco-affine Menschen, die den Flamenco nicht nur als Leidenschaft, sondern als Kunst- und Lebensform verstehen) meinen damit, dass sie nicht Flamenco «machen», also nur spielen oder tanzen, sondern dass sie Flamenco sind. Ihr ganzes Menschsein verinnerlicht den Flamenco. Er ist ihr Ausdruck, ist in ihrem Alltag, ihrem Umfeld, ihrem Verhalten, ihrem Denken und Fühlen.
Das gibt es auch beim Schreiben. Nur dass es dafür (noch) kein Wort gibt. Man müsste es erfinden. Was an dieser Stelle getan wird: «Ich bin schreibend.» Dies trifft es am besten. Denn Menschen, die schreibend sind, fangen nicht damit an und hören nicht damit auf. Sie sind es. Es gibt Menschen, die fühlen die Sprache, lange bevor sie schreiben lernen. Natürlich stellt sich die Frage, wie schreibende Menschen früher, bevor die Schrift erfunden wurde, ihren Ausdruck fanden. Auf jeden Fall sind schreibende Menschen, denen Sprachgefühl, Metaphern, Tempo, Rhythmus, Stil etc. Lebensessenz ist, die einzige Hoffnung, die Kunstform der Sprache über das KI-Zeitalter hinwegzuheben.
Schreibende Menschen erkennen einander. Wahrscheinlich ähnlich den Marienkäfern, die sich jedes Jahr finden, um in Gruppen zu überwintern. Oder den Hirschkäfern, die sich auf
Distanzen von Kilometern «riechen». Wobei sie dafür extra zu einer bestimmten Zeit aus der Erde kriechen. Schreibende verkriechen sich zwar auch nicht selten. Aber egal, wann sie rauskommen, wenn sie es tun, erahnen sie einander.
Ministerium der Liebe
Bettina Gugger ist schreibend. «Als Kind dachte ich, dass alle Menschen so sensibel und sensitiv sind wie ich», sagt sie. Die Feststellung, dass dem nicht so ist, ernüchterte sie.
Aber Ernüchterung und Traurigkeit komprimieren Gedanken, die irgendwann in Worten und Sätzen aus Kopf und Seele hinauswollen. In den Kurzgeschichten ihres Buches «Ministerium der Liebe», wofür sie mit dem Literaturpreis des Kantons Berns ausgezeichnet wurde, lässt sie ihre Protagonisten Sätze sagen wie: «Kleine Menschen deponieren ihre Sätze in Griffnähe, während grosse Menschen mit ihren Sätzen Netze auswerfen». Oder: «Wenn man im Begriff ist, Dummheiten zu begehen, braucht man keinen, der einen dabei unterstützt.» Und weiter: «Er wollte damit sagen, dass die Dummheit bereits mit dem Gedanken daran einsetzte und selten abzuwenden war.» Oder: «Er pflückte Frauen wie Blumen, erinnerte sich eher an Blütenkelche, die er mit ihnen assoziierte, als an ihre Haarfarbe.» Oder: «Man stelle sich bloss einen Randständigen vor, der um einen Batzen für ein Caramelköpfli bittet, wer könnte da schon Nein sagen. Nun, würde der Obdachlose an ein Caramelköpfli denken, dann würde er sich zwangsläufig an seine Grossmutter erinnern, die sich täglich eine saubere Schürze umgebunden hatte, um stets einen tadellosen Eindruck zu hinterlassen.»
Manchmal schreibt die Autorin in der dritten Person, dann wieder in der ersten. Das Faszinierende: Die Themen gleichen sich selten. Sie pflückt verschiedene Ereignisse und Handlungen wie Früchte vom Baum der Erkenntnis. Nur dass dieser Baum nicht nur ein Birnbaum oder ein Kirschbaum ist, sondern ein Lebensbaum, der vollhängt mit vielen verschiedenen Früchten dieser Erde – auch mit Evas und Adams (!) Äpfeln. Bettina Gugger schreibt von Erotik, von Einsamkeit, von Verlassen-Sein und -Werden, von Verzweiflung und Aushalten. Von Liebe zwischen Menschen und Tieren und von Tieren, die die Liebe für die Menschen mit Schnäbeln pflücken. Gugger ist schreibend: Vielseitig, immer anders, immer denkend und fühlend. Sie schreibt von aussen nach innen und trifft dabei oft das angepeilte Ziel. Das Ende ihrer Geschichten kommt schnell. Vielleicht deshalb, damit sich ihre Protagonistinnen und Protagonisten selbst nicht zu ernst nehmen können. Die Autorin lässt ihre Leserschaft diese von aussen betrachten, lässt sie nah, aber nie zu nah an ihre Figuren heran. Denn bevor man sich’s versieht, wird man wieder hinausgekickt, aus dem Leben der anderen. Guggers Figuren hätten das Potenzial, auch etwas länger existieren zu dürfen … Das Spannende und Darüber-Hinwegtragende: Obwohl die 14 Kurzgeschichten in sich abgeschlossen sind, begegnen sich die Figuren in den folgenden Geschichten immer wieder.
Magnetfeld der Tauben
Auch im zweiten Band «Magnetfeld der Tauben», finden sich Kurzgeschichten, die, wie es heisst, «von den magischen Momenten des Alltags handeln. Von jenen Augenblicken, die dafür sorgen, dass sich unser Bewusstsein weitet.» 13 Geschichten sind es diesmal; die Autorin bleibt ihrer Handschrift treu.
Bettina Gugger wurde vor knapp 40 Jahren in Amsoldingen geboren, besuchte das Gymnasium in Thun. «Ja, das war eine schöne Zeit im Gymer Seefeld», sagt sie. «Die Atmosphäre war offen, es gab Raum für eigene Projekte.» Vor allem auch die Fächer Philosophie, Psychologie und Pädagogik hätten sie angesprochen. Mit 17 schrieb sie ihre ersten Kurzgeschichten. Dann unterbrach sie das Gymnasium, baute eine Art «Reifejahr» ein: Ging für einige Zeit nach Estavayer-le-Lac, um Französisch, und drei Monate nach London, um Englisch zu lernen. «Die Zeit prägte mich: das Erfahren anderer Lebensrealitäten.» Die Maturarbeit widmete sie schliesslich dem Thema Poetry-Slam. So wurde Bettina Gugger schliesslich eine der ersten Slammerinnen der Schweiz, trat auf, tingelte durch das Land. Ihre geerdete Stimme passt, ihr Deutsch ist bühnentauglich. Was faszinierte sie an Poetry-Slam? «Die Mündlichkeit, das Aufbrechen der elitären Literatur, das Experimentieren mit der Sprache, das Treffen von Gleichgesinnten. Damals war Social Media noch ein Fremdwort. Poetry-Slam war inspirierend, es existierte grosse Textvielfalt, auch tiefsinnige Texte waren darunter.» Und heute? «Ja, ich glaube, heute gibt es fast nur noch Comedy.» Nach dem Gymnasium studierte Gugger Theaterwissenschaften und Germanistik. Um sich das Studium zu finanzieren, jobbte sie. Mit 24 machte sie den Bachelor – und ging nach Berlin.
Die wilden Jahre
«Es war mir schon als Jugendliche zu eng in Amsoldingen.» So verliess sie die Schweiz, folgte ihrer Frankfurter Liebe nach Deutschland. Beide liessen sich schliesslich in der deutschen Hauptstadt nieder. «Damals dachte ich, alles würde sich organisch ineinanderfügen.» «Schockstrategie» nennt sie das Gefühl, das sie während der zwei Berliner Jahre empfand, angelehnt an das gleichnamige Buch von Naomi Klein. «Ich dachte, nun könne ich vom Schreiben leben.» Mit 26 Jahren war sie wieder in der Schweiz. Um Fuss zu fassen, studierte sie am Literaturinstitut in Biel. Ab 29 dufte sie sich beruflich nennen, was sie menschlich längst schon war: Schriftstellerin. Danach brach eine schwierige Zeit auf dem Arbeitsmarkt an. Sie ging aufs RAV, das ihr, gemeinsam mit dem SECO, im Rahmen einer «arbeitsmarktlichen Massnahme» ein Praktikum organisierte: Die Schriftstellerin schrieb für die Zeitschrift der Arbeitslosenversicherung und fand so den Weg in den Journalismus. Heute ist Bettina Gugger Kulturredakteurin beim «Anzeiger Region Bern», der Wochenzeitung, die in der Stadt und Agglomeration Bern neu redaktionell, nicht mehr rein amtlich daherkommt.
Zuvor, 2016, bekam sie Stipendien vom Kanton Bern. 2017 verbrachte sie vier Monate in einem Schreibstipendium in der Fundaziun Nairs in Scuol. 2018 zog sie für ein Jahr nach Sent. 2019 schrieb und jobbte sie ein Jahr in Burgdorf, dem «Tor zum Emmental». 2021 gings zurück ins Engadin, wo sie zwei Jahre für die «Engadiner Post» schrieb. Zwischenzeitlich verbrachte sie zwei Monate in Klosters, wieder im Rahmen eines Schreibstipendiums. Heute lebt sie in Seftigen.
Bettina Gugger sieht sich eher als Einzelgängerin, ist besonnen-zurückhaltend, reflektiert und bescheiden. «Das war nicht immer so», lacht sie. Früher habe es sie manchmal provoziert, wenn manche Menschen gewisse Dinge nicht verstanden hätten, die für sie selbst klar gewesen seien. «Mir war es zu wenig bewusst, dass ich andere durch diese Art manchmal verletzte.» Aber schlussendlich habe diese Reflexion und die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber auch geholfen zu schreiben. Obwohl ihr das Leben schon einige Rückschläge beschert habe.
«Das Schreiben war in mir angelegt»
Bettina Guggers Mutter ist ausgebildete Hochbauzeichnerin, der Vater Architekt HTL. «Später war er Bauverwalter der Gemeinde Schwarzenburg.» Die Mutter unterrichtete Englisch. «Wir konnten uns als Kinder frei orientieren.» Und ja, die Familie sei ihr sehr wichtig. So sind auch ihre Geschwister der Kunst und der Literatur zugewandt.
Und wie fand die Literatur sie? «Bereits als Kind erzählte ich mir selbst Geschichten. Schon als ich noch gar nicht schreiben konnte.» Wenn sie manche Sachen von früher lese, verblüffe es sie. «Ich staune, wie das Schreiben in mir angelegt war, bevor ich es selbst wusste.» Die Schriftstellerin bleibt sich treu. Wird es immer bleiben, weil sie «schreibend» ist. «Ja, im grossen Bild des Lebens erkenne ich eine gewisse Kontinuität», sinniert sie. «Schon als Kind wollte ich Philosophen und weise Menschen treffen – auch wenn ich keinen Begriff dafür hatte. Da war so ein unbestimmtes Bild.» Bettina Gugger ist dabei, dieses in ihr angelegte Lebensbild mit jedem Tag, mit jedem Jahr klarer und klarer zu erkennen. Und wenn sie nicht schreibt? «Ich wandere gern, liebe die Natur, das Reisen.» Sie erlebe am meisten, wenn sie allein unterwegs sei. «Ich liebe das Neue und Frische.» So war sie längere Zeit in Vietnam, Thailand, Georgien, Rumänien. «Der Osten reizt mich. Eigentlich die ganze Welt.» Sie kocht gern. Liebt das Theater, die Kunst, das Lesen – selbstverständlich. Und sie schreibt am dritten Buch mit dem Arbeitstitel «Mondland». Darin gehe es um die verschiedenen Orte, in denen sie lebte. Um die Regionalität.
«Ich lebe sehr gern», sagt sie und lacht: «Das Leben ist eine ständige Verführung. Manchmal ist es schwierig, die Balance zwischen Erleben und Schreiben zu finden.» Denn schreiben allein nütze nichts. «Ohne Leben kein Schreiben.»