Skip to main content

-


Anzeige


«Geschichte entsteht aus Geschichten»

Thun | Der Lokalhistoriker Thomas Müller lässt mit einem virtuellen Stadtarchiv Thuns Vergangenheit aufleben. Wer auf der Internetseite mit den Tausenden von Fotos und Dokumenten zu stöbern beginnt, kommt kaum davon los. Thomas Müller geht es nicht anders: Thuns Geschichte ist zu seiner Passion geworden.

| Regula Portillo | Begegnung
Archiv Thun
Fasziniert von der Thuner Stadtgeschichte: Lokalhistoriker Thomas Müller. Foto: zvg

Wie sah das Thuner Strandbad 1930 aus? Wie ging es in den Produktionshallen der Hoffmann-Fabrik zu und her? Weswegen zwang ein verletztes Pferd den FC Thun dereinst dazu, seine Spielstätte von der Allmend in die Innenstadt zu verlegen? Einer kennt die Antworten auf jeden Fall: Thomas Müller, Initiant und Betreiber der Internetseite Thunensis. Doch was ist Thunensis genau und wie ist es dazu gekommen?

«Die Geschichte der Stadt Thun und ihrer Menschen hat mich schon immer fasziniert», beginnt der 54-jährige Thuner zu erzählen. «Um zu verhindern, dass Fotoalben oder Grossvaters Urkunden, die auf Dachböden lagern, in Vergessenheit und schliesslich ins Altpapier geraten, habe ich vor vielen Jahren damit angefangen, alte Fotos und andere spannende Dokumente einzuscannen.» Dabei blieb es allerdings nicht. Bald schon begann der gelernte Informatiker das historische Material aktiv zu sammeln und laufend zu digitalisieren. Immer mit der Absicht, die wertvollen Zeitdokumente festzuhalten. Dazu gehörten nebst Fotos und Postkarten beispielsweise alte Prospekte, Wahlbroschüren oder Stadtpläne. 

Viel Material erhielt der IT-Supporter
von den älteren Menschen, mit denen er wegen der Arbeit zu tun hatte. Die Sammlung wurde grösser und grösser – und mit ihr Müllers Begeisterung, so dass er 2009 beschloss, das zusammengetragene Material über eine Internetseite öffentlich zugänglich zu machen. Thunensis, das virtuelle Stadtarchiv, war geboren. Hätte er sich damals vorstellen können, dass seine Sammlung auf dereinst über 6000 Fotos, Dokumente und Videos anwachsen würde? Lachend schüttelt Thomas Müller den Kopf: «Andere haben eine Modelleisenbahn – ich mein Archiv.»

Von EPA bis zu Auswanderung
Anders als bei herkömmlichen Archiven, wo die Dokumente meist in Archivschachteln und Ordnern lagern, können die Fotos auf Thunensis direkt miteinander verlinkt und somit in einen grösseren Zusammenhang gesetzt werden. Dazu betreibt Thomas Müller regelrechte Detektivarbeit. Denn selten ist auf Anhieb klar, wo oder in welcher Zeit eine Aufnahme entstanden ist. «Es ist wie bei einem Riesenpuzzle», vergleicht er. «Lange sucht man nach einem bestimmten Teilchen, und sobald man es gefunden hat, macht vieles Sinn. Ein grossartiges Gefühl!» Oft ist das Unauffällige das Interessanteste. Inzwischen hat Thomas Müller ein Auge dafür, welches Detail wichtig sein könnte. So verraten die Etikette der Bierflasche oder das Auto im Hintergrund möglicherweise mehr über den Zeitpunkt der Aufnahme als die Aufnahme an sich. Geschichte beginnt bekanntlich gestern; auch die jüngste Vergangenheit interessiert. Zum Beispiel die Fotos der EPA und des Interieurs des EPA-Restaurants, als es dieses noch gegeben hat. «Legendär waren in den 80er-Jahren die EPA-Züpfen. Da bildeten sich so lange Schlangen vor dem Verkaufsstand, dass man diesen in die Laube verlegen musste», schreibt eine Besucherin in der dafür vorgesehenen Kommentarspalte, und eine andere bedankt sich für den «Nostalgie-Moment». Um sich einfacher über gemeinsame Thun-Erinnerungen auszutauschen, gründete Thomas Müller eine Thunensis-Facebookgruppe. Während Bilder jüngeren Datums persönliche Erinnerungen wecken und Diskussionen anstossen, stehen die älteren Fotos und Dokumente oft als Zeitzeugen einer bestimmten Epoche.

19 23 Archiv Thun

Foto links: Schalterhalle des alten Bahnhofs Thun um 1880. Foto rechts: Berntor, 1875. Ein Jahr später wurde das Berntor abgerissen. Fotos: Thunensis/zvg


Müller erwähnt ein eindrückliches Beispiel: Auf einer der wenigen Innenansichten, die vom alten Thuner Bahnhof existieren, warb die Reederei «Red Star Line» mittels Plakaten für die Auswanderung nach Nord- und Südamerika. In der Schweiz kaum mehr vorstellbar: Auch hierzulande gab es eine Zeit, in der Hunger und Armut viele Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben über den Ozean nach Amerika getrieben haben. Die Gemeinden waren froh um jede und jeden, der oder die das Land verliess, und finanzierten sogar die Reise der Ausreisewilligen – One Way, wohlverstanden. Zwischen 1880 und 1884 wanderten rund zwei Prozent der Bevölkerung aus dem Berner Oberland aus. Das entsprach jeder 50. Person.

Fotografie- und Stadtentwicklung
Die älteste Aufnahme von Thun, die auf Thunensis zu finden ist, ist keine Fotografie, sondern eine Daguerreotypie von Louise Franziska Möllinger aus dem Jahr 1845. Die Bildersammlung auf Thunensis dokumentiert ganz nebenbei auch die Entwicklung und Geschichte der Fotografie.

Louise Franziska Möllinger gilt als mit die erste Frau, die in der Schweiz als Fotografin tätig war. Das Abgebildete ist ebenfalls von Interesse: «Die neben dem Berntor stehende ‹Zollstätt›, welche an einen antiken Tempel erinnert, war bis zur Gründung des Bundestaates und der Aufhebung der Binnenzölle noch drei Jahre in Betrieb», schreibt Müller im Begleittext. Und weiter: «Danach blieb das Zollhaus verwaist, bis eine ausserordentliche Gemeindeversammlung am 4. Mai 1875 beschloss, das Häuschen der Ortspolizei zu verkaufen, die dann von diesem Standort aus in der Stadt während etlichen Jahren für Ruhe und Ordnung sorgte. Das Gebäude wurde 1950 abgebrochen. Später befand sich an dieser Stelle eine öffentliche Toiletten­anlage.»

Die umfangreichen Texte zu den historischen Fotografien und Dokumenten verfasst Thomas Müller selbst. Wie viel Recherche- und Schreibarbeit er dafür aufwendet, lässt sich nur erahnen. «Einige Hundert Stunden sind es inzwischen schon», verrät der Hobbyhistoriker schmunzelnd. Doch seit das Zeitungsarchiv online zugänglich ist, sei die Bild- und Textrecherche zum Glück einfacher geworden. «Das haben Leidenschaften halt so an sich: Wenn es dir den Ärmel reinzieht, kommst du nicht mehr davon los», sagt er, um nach kurzem Nachdenken hinzuzufügen, dass eine gewisse Nostalgie damit verbunden sei – der erwähnte Wandel vom historischen Zollhaus zur Toilettenanlage sei ein gutes Beispiel dafür.

Wie bitte? «Nun gut, wie sich die Stadt über die Jahrhunderte verändert hat, ist teilweise katastrophal», gibt Müller zu bedenken. «Von den insgesamt sieben Stadttoren, die es in Thun einmal gegeben hat, steht nur noch eins, das Burgtor, welches darüber hinaus eher unbedeutend ist. Alle anderen wurden aufgrund des zunehmenden Individualverkehrs und der engen Platzverhältnisse abgerissen. Das ist jammerschade. Über 500 Jahre gehörte das majestätische Berntor, welches die Stadtmauer gegen Norden abschloss, zum Thuner Stadtbild dazu. Genau wie das Schloss oder die Schlosskirche. Es ist ein Herzenswunsch von mir, dass das Berntor wieder aufgebaut wird. Die neue Verkehrsführung würde es zulassen. Und für den Tourismus wäre es natürlich ein Gewinn.»

Kostenlos und für alle zugänglich
Thomas Müller fehlt es nicht an Ideen und Projekten, die er anpacken will. Regelmässig führt er mit Karl Rechsteiner von cooperaxion Stadtführungen durch, etwa zu den Themen Sklavenhandel und Migration in den 40er- und 50er-Jahren. Ein Angebot, welches er nach Möglichkeit ausbauen möchte. Auch den Archivbestand von Thunensis erweitert Müller laufend – und das kostenlos und für alle zugänglich. Thunensis verfolgt keine kommerziellen Zwecke und finanziert sich durch Spenden und freiwillige Mitarbeit. «Ich betreibe Thunensis als Hobby, das ist ganz klar. Mein Vorteil ist, dass ich auch beruflich Webseiten programmiere, insofern fällt mir dieser Teil leicht. Ansonsten wäre es finanziell nicht zu stemmen.» Inzwischen liebäugelt Thomas Müller mit der Idee, einen Verein zu gründen und die Trägerschaft breiter abzustützen. Schon heute gilt: Wer am Projekt interessiert ist und selbst über historische Fotos und Dokumente verfügt, ist herzlich eingeladen, diese zur Verfügung zu stellen und so zum Ausbau der Webseite beizutragen und ein weiteres Stück Geschichte festzuhalten.

www.thunensis.com


Ihre Meinung interessiert uns!


Verwandte Artikel


«Wir müssen unsere Krisenmuskeln trainieren»

Jenseits der Sprechstunde | «Gesundheitsförderung ist Kompetenzförderung», sagt Esther Pauchard. Das neue Buch der Psychiaterin aus Thun und über die Schweiz hinaus bekannte Schriftstellerin ist kein Krimi, sondern ein Rezept – allerdings keins zum Kochen, sondern eins fürs Leben.

Ketten im Kopf

Goldiwil | Etwa 40 Millionen Menschen sind weltweit Opfer von Menschenhandel und moderner Sklaverei. Corinne Wagener sah, wie Frauen, Teenager und Kinder gefangen gehalten und zur Prostitution gezwungen werden – und gründete «Chance Swiss»: Die Spenden fliessen zu 100 Prozent in die Projekte.

«Die Seespiele sind auch etwas mein Projekt»

Musical | Iwan Wassilevski ist musikalischer Leiter und Dirigent der Thunerseespiele. «Mary Poppins» wird im Sommer 2024 auf der Thuner Seebühne gezeigt werden – weltweit zum ersten Mal als Open-Air-Inszenierung. Hauptdarstellerinnen und -darsteller sind gecastet, der Vorverkauf ist angelaufen.
Männer

Wenn das Fleisch im Hals stecken bleibt

EoE | Eosinophile Ösophagitis nennt sich die Krankheit, bei der Betroffene nicht mehr schlucken können. Warum dies geschieht, erklären Professor Dr. Alex Straumann, einer der ersten Beschreiber des Krankheitsbildes und Koryphäe auf diesem Gebiet, und der von EoE Betroffene, Christoph Michel,...
| Sonja Laurèle Bauer | Begegnung

Anzeige