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Der Kommunikationsskandal

Tiere/Politik | Philipp Ryf ist Geschäftsleiter und Leiter Politik und Kampagnen von Sentience Politics, die die Interessen «nicht-menschlicher» Tiere in die Mitte der Gesellschaft trägt.

| Sonja Laurèle Bauer | Gesellschaft
Schwein
«Sag mir, wo die Schweine sind?» Auch hierzulande sehen die wenigsten jemals Tageslicht. Foto: zvg/Sentience

Die Vision einer Gesellschaft, in der Tiere vor Leid bewahrt werden, das ist die Idee hinter Sentience. Das englische Wort Sentience steht für die Empfindungsfähigkeit – und insbesondere die Fähigkeit, Glück und Leid zu empfinden, die Menschen und Tiere teilen. «Sie begründet wesentlich, warum wir in einem moralisch relevanten Sinne geschädigt werden können. Die Empfindungsfähigkeit ist daher politisch von zentraler Bedeutung», so Philipp Ryf. 

Von wegen weniger Fleisch

Ryfs «Spezialgebiet» ist die Tierhaltung in der Landwirtschaft. «Die meisten sogenannten Nutztiere, die in der Schweiz leben, kommen aus Qualzuchten und haben keinen Freilauf», so Ryf. Mit Ausnahme der Kühe, die als sogenannte Grasveredler Auslauf bekämen. «Die meisten Hühner und Schweine aber können nie ins Freie.» Es sei ein Fakt, dass die Entwicklung in Richtung wirkliches Tierwohl, das heutzutage bloss eine Worthülse sei, in der Schweiz stagniere. «Die Schlachtzahlen gehen nicht wie erhofft zurück, im Gegenteil, sie steigen.» Woran liegt das? «Es gab eine Konsum-Verschiebung. Die Menschen kommen mehr und mehr weg vom Schweinefleisch, essen dafür aber Hühnerfleisch, weil irgendjemand gesagt hat, es sei gesünder. Für die gleiche Menge Fleisch braucht es aber massiv mehr Tiere, da Hühner viel kleiner sind als Schweine.» Recherchen dieser Zeitung zeigen, dass die Zahl der geschlachteten Tiere in den vergangenen Jahren in der Schweiz von 40 auf 80 Millionen gestiegen ist. «Wir schlachten pro Jahr das zehnfache an Tieren, wie Menschen in der Schweiz leben!» 

Die meisten der Hühner sähen niemals Tageslicht. «Sie werden zu Tausenden auf der Fläche eines A4-Blatt Papiers pro Tier gehalten, obwohl man weiss, dass sie sich nur in Gruppen von je ungefähr 15 Tieren wohlfühlen.» So komme es zu Schnabel-Hackereien untereinander. «Die Tiere verletzen einander und werden dann, verenden sie, als Abfallprodukte gehandelt. Sie erscheinen nicht einmal in der Schlachtstatistik.» 

Auch die klugen Schweine, die oft im Seeland oder der Innerschweiz so verdeckt gehalten würden, dass niemand auf die Ställe aufmerksam werde, vegetierten erbärmlich vor sich hin. 87 Prozent der Kühe erhielten immerhin Auslauf. Im Gegensatz zu nur 5 Prozent der Schweine und 8 Prozent der Hühner. «Abgesehen vom grausamen Trennen der Kälber von den Müttern geht es den Wiederkäuern in der Schweiz wohl am besten.» Was nicht heisse, dass dies genüge. 

Der Kommunikationsskandal

Philipp Ryf ist es ein Anliegen, den «GVE-Schummel» aufzudecken. GVE steht für Grossvieheinheit. «Man muss sich dies vorstellen: Mit einer Grossvieheinheit ist eine Kuh gemeint – oder 250 Hühner. 250 kleine Tiere werden in der Statistik des Bundes also als ein gros-ses Tier gerechnet. Heisst: Besitzt eine Bauernfamilie 500 Masthühner ohne Auslauf und zwei Kühe, die auf eine Weide dürfen, haben gemäss offiziellen Quellen 50 Prozent der Tiere auf dem entsprechenden Hof Auslauf.» 

«Wenn es heisst, dass 78 Prozent der Nutztiere Auslauf hätten, der Bund aber eben in GVE rechnet, so haben in Wirklichkeit nur 13 Prozent der Tiere wirklich Auslauf. Das ist ein krasser Unterschied – und die Kommunikation des Bundes ist ein Skandal!» 

Tiere würden zusätzlich in Stichtagen gerechnet. «Dadurch wird nicht ersichtlich, dass ein Stall im Jahr sieben Mal neu mit Tausenden Hühnern besetzt wird, weil die anderen bereits nach 35 Tagen geschlachtet wurden.» Über 80 Millionen Hühner werden pro Jahr in der kleinen Schweiz geschlachtet. An einem Stichtag zählt der Bund aber nur 14 Millionen Tiere.

Der zweite Skandal

Von Landwirt-Seite her heisse es stets, so Philipp Ryf, «dass die Tierrechts-organisationen gegen die Bauern schössen.» Dabei gehe es um die Sache. 

In der Schweiz gibt es einen Verfassungsartikel, gemäss dem die bodenbewirtschaftende Landwirtschaft gefördert werden soll. «Tierhaltung, wie sie heute überall praktiziert wird, hat jedoch nichts mehr mit Bodenbewirtschaftung zu tun. Die Entwicklung führt in die falsche Richtung: Um die Unmengen an Tieren durchzufüttern, importieren wir pro Jahr über eine Million Tonnen Futtermittel. Das entspricht fast dem gesamten offenen Ackerland der Schweiz. Und auch in der Schweiz wird auf rund 50 Prozent der Ackerflächen Futter für Tiere produziert – statt diese Flächen direkt für die menschliche Ernährung zu nutzen.» Die Art, wie die Tiere gehalten würden, habe rein gar nichts mehr mit Landwirtschaft zu tun. Ausserdem werde die Genetik, die Zucht der Tiere stets hochleistungsorientierter. «Ein Hybridhuhn hat innerhalb kurzer Zeit zwei Kilo Schlachtgewicht. Das macht sein Körper nicht mit.» Auch hier gelte: «Stirbt es, zum Beispiel an Herzversagen oder weil es unter dem eigenen Gewicht zusammenbricht, gilt es als Ausschuss und wird via Mülleimer oder Biogasanlage entsorgt. Diese Tiere erscheinen in keiner Statistik.» Auch die Eierproduktion sei ein Drama. Generell gelte: «Vor Feiertagen wird die Mast erhöht, weil mehr Fleisch gegessen wird.» Und: «Bauern, die Bio produzieren, erhalten zum Teil nur den konventionellen Preis von den Grossverteilern, der Aufwand wird nicht vergütet.» 

Was niemand wissen will

Schweine werden erst im Kohlenmo-noxidbad betäubt, bevor das automatische Messer sie auftrennt. «In grossen Schlachtereien wird nicht ausreichend kontrolliert, wie viele nicht genug betäubt sind.» Zwar könne man lesen, dass dies «nur» ein Prozent sei. «Rechnen Sie mal ein Prozent von zig Millionen …» Nach wie vor würden Hühner in vielen Schlachthäusern kopfüber aufgehängt und zur Betäubung durch ein Elektrobad gezogen. «Hebt ein Tier im falschen Moment den Kopf, wird es bei vollem Bewusstsein getötet.» Die Menschen – «meistens sind es Personen mit Migrationshintergrund, die diese Arbeit verrichten müssen» –, die in Schlachthäusern arbeiteten, agierten ausserhalb der öffentlichen Wahrnehmung. «Auch dies ist ein Skandal. Niemand macht das freiwillig.» 

«Erinnert Euch!»

Was aber können wir tun? «Ein Skandal verpufft schnell wieder», so der Politikwissenschaftler. «Wir bräuchten ein System, das einen ständig daran erinnert, woraus Fleisch gemacht ist und was es andere Spezies kostet, bis es auf unserem Teller liegt.» Das schlechte Gewissen lasse sich schnell ausblenden, wenn der Appetit sich bemerkbar mache. «Wir Konsumenten denken, dass wir gutes Fleisch hätten, solange nur das Wort Schweiz darauf steht. ‹Swissness› funktioniert enorm gut. Wir denken, alle Tiere hier hätten ein gutes Leben. Es ist uns schliesslich auch völlig egal, ob unser Poulet aus einem Stall stammt, in dem 27 000 Hühner vegetieren – so viel darf man in der Schweiz in einem Stall halten. Ja, wir haben ein kaputtes System.» Was aber wäre die Lösung? «Wir sollten mittelfristig dahin zurück, wo wir stark sind: zum Grasland Schweiz. Uns aus dieser Nahrungsmittelkonkurrenz rausnehmen.» Dies wäre gemäss Ryf noch keine Lösung, aber ein gangbarer Mittelweg. «Wir brauchen mehr kleinere Bauernbetriebe, welche die Tiere rauslassen. Müssen zurück zur Bodenbewirtschaftung, zum gesunden Menschenverstand. Sollten nur noch produzieren, was wir aus ökologischer Sicht können.» Menschen müssten weniger Fleisch essen. «Hühnerfleisch wird nie, in keinem Land der Welt, tierfreundlich produziert. Wer es will, kann es auch im Ausland kaufen. Es macht kaum einen Unterschied.» Und was ist mit der Methanproblematik? «Wenn wir alles andere ökologisch produzieren, viel weniger Tiere halten, haben wir das Problem nicht. Hühnermassen, deren Futter aus Brasilien kommt, oder Schweinemassen, deren Gülle wir nicht loswerden und die in Lastwagen über die Grenzen aus dem Land gekarrt wird, damit unser Grundwasser nicht komplett kaputt geht, das sind Probleme.»

Philipp Ryf setzte sich als Co-Kampagnen-leiter stark für die Initiative gegen Massentierhaltung ein. Ryf hat über zehn Jahre Kampagnenerfahrung als NGO in verschiedenen politischen Organisationen. Seit über 15 Jahren ist er im Tierrechtsbereich aktiv. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und nachhaltige Entwicklung.

www.sentience.ch


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