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Es braucht ein Umdenken

Franziska Herren | Die Initiantin der «Ernährungsinitiative» erklärt, welche Anliegen ihr wichtig sind und wie die Landwirtschaft bei einer Annahme
letztlich profitieren kann.

| Jürg Amsler | Politik
Herren
Franziska Herren: «Unsere Initiative sorgt unter anderem für die Ernährungssicherheit der Schweizer Bevölkerung und für die Produktionssicherheit der einheimischen Landwirtschaft.» zvg

 Frau Herren, der «Blick» hat Sie kürzlich als «Bauernschreck» betitelt.

Franziska Herren: Es schreckt immer auf, wenn ein Umdenken gefordert wird. Die Initiative für eine sichere Ernährung verlangt Anpassungen in der Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, um die Ernährungssicherheit der Schweizer Bevölkerung und die Produktionssicherheit der Bäuerinnen und Bauern zu erhöhen. Heute ist unsere Versorgung mit Lebensmitteln zu 50 Prozent vom Ausland abhängig und so nicht sichergestellt, wenn Importe wegfallen. Der Schweizer Bauernverband warnt: «Ein Krieg in einem wichtigen Exportland oder ein Jahr mit Wetterextremen reichen, damit die ausreichende Versorgung aller Menschen auf dieser Welt nicht mehr gewährleistet ist.» Zudem müssen wir gegen den Verlust der Biodiversität und der Bodenfruchtbarkeit vorgehen, der durch Pestizide und Überdüngung verursacht wird und die Produktionssicherheit der Landwirtschaft und damit unsere Ernährungssicherheit gefährdet.

Und wie soll das geschehen?

Auf den 60 Prozent Ackerflächen, die heute für den Anbau von Futtermitteln genutzt werden, sollen mehr pflanzliche Lebensmittel für die Bevölkerung angebaut werden. Da so viel mehr Kalorien produziert werden, können wir unsere Selbstversorgung erhöhen. Dann brauchen wir nachhaltige Anbausysteme, die mit einer hohen Biodiversität und Bodenfruchtbarkeit produzieren, statt Monokulturen. Das sorgt für mehr Erträge in der Landwirtschaft und für natürlichen Pflanzenschutz und natürliche Düngung und ersetzt Pestizide und Kunstdünger. Zudem braucht es die Förderung von natürlichem, samenfestem Saat- und Pflanzgut, das in der Schweiz natürlich selber reproduziert werden kann. 

Das genügt?

Nicht ganz. Zur Ernährungssicherheit gehört eben auch genügend sauberes Trinkwasser. 

Mit Verlaub, das tönt so, als sollte die Trinkwasserinitiative, die im Juni 2021 von Volk und Ständen abgelehnt worden ist, unter dem Deckmantel «Ernährungsinitiative» eine zweite Chance erhalten.

Ohne sauberes Trinkwasser – unser Lebensmittel Nr. 1 – gibt es keine Ernährungssicherheit. Die Schweiz verfügt heute über keine eidgenössische Strategie und Sachplanung für die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung. Für Strom, Verkehr und anderes ist dies selbstverständlich. Dieser Blindflug ist fahrlässig. Spätestens seit dem Sommer 2003 wissen wir, wie schnell auch in der Schweiz Trinkwasser und Wasser für die Produktion von Lebensmitteln knapp werden kann. Schwer wiegt zudem der vernachlässigte Gewässerschutz. Immer wieder müssen Trinkwasserfassungen wegen Überschreitungen der Grenzwerte für Nitrat und Pestizide geschlossen werden, was die Trinkwasserversorgung der Schweizer Bevölkerung zusätzlich gefährdet.

Die Ernährungssicherheit ist in der Bundesverfassung in Artikel 104a bereits verankert.

Genau, 2017, als wir Unterschriften für die Trinkwasserinitiative sammelten, hat das Volk über den Gegenvorschlag zur Ernährungssicherheitsinitiative des Schweizer Bauernverbandes abgestimmt. Er wurde mit 78,6 Prozent angenommen. Damals dachte ich: Wow, das sind wichtige, zentrale Forderungen, die der Bauernverband und die Politik für unsere Ernährungssicherheit verlangen, etwa eine standortangepasste und ressourceneffiziente Lebensmittelproduktion oder einen ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln. Doch bis heute wurden diese Forderungen nicht umgesetzt, sondern nur als Imagekampagne benutzt und schliesslich schubladisiert. Denn weiterhin werden statt pflanzlicher Lebensmittel auf 60 Prozent unserer Ackerflächen Futtermittel für Nutztiere angebaut – das Gegenteil einer ressourceneffizienten Lebensmittelproduktion. Und weiterhin wird eine Tierproduktion mit Importfutter erlaubt, die die Schweiz mit Gülle und Ammoniak überdüngt.

Ihr versucht mit eurer Initiative, der Gegnerschaft den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Mit der Ernährungssicherheitsinitiative hat der Bauernverband bereits wichtige Aspekte festgeschrieben und eine gute Grundlage geschaffen, darauf bauen wir auf. Wir nehmen die Forderungen des Bauernverbandes aus der «Schublade» und ergänzen sie, damit eine Umsetzung erfolgt. Die Initiative schafft die Voraussetzungen dafür, dass die Schweiz ihren Netto-Selbstversorgungsgrad von 50 auf 70 Prozent erhöhen, für sauberes Trinkwasser sorgen und die Überdüngung stoppen kann. 

Die Initiative verlangt, dass in der Bundesverfassung festgeschrieben wird, der Bund habe einen Netto-Selbstversorgungsgrad von mindestens 70 Prozent anzustreben. Sogar eine Studie des Schweizerischen Bauernverbandes kommt zum Schluss, dass dies realisierbar ist.

Ja, es ist ein wichtiges Ziel, das mit dem Anbau von mehr pflanzlichen Lebensmitteln auf unseren Ackerflächen und zugleich der Förderung einer «flexitarischen» Ernährung erreicht werden kann. Auch die Reduktion von Food Waste wird mit einbezogen. Ein höherer Selbstversorgungsgrad stärkt die Bäuerinnen und Bauern. Sie erhalten mehr Produktionssicherheit und Abnahmesicherheit für ihre Ernten. Mehr pflanzliche Lebensmittel hierzulande anzubauen und zu verarbeiten, statt sie zu importieren, schafft Arbeitsplätze sowie Wertschöpfung vor Ort und erhöht die Selbstversorgung der Schweiz. Man bedenke: 64 Prozent der pflanzlichen Lebensmittel, die die Schweizer Bevölkerung konsumiert, werden heute importiert. Bei Pflanzenproteinen, wie zum Beispiel Hülsenfrüchten und Nüssen, sind es sogar 98 Prozent.

Das heisst?

Es braucht eine neue ausgewogene Balance zwischen der Produktion und dem Konsum von tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln. Heute fördert der Bund die Produktion und den Konsum von tierischen Lebensmitteln fünfmal mehr als von pflanzlichen: mit 2,3 Milliarden gegenüber 0,5 Milliarden. Das führt dazu, dass auf unseren Ackerflächen mehr Futter für Nutztiere statt pflanzlicher Lebensmittel für die Bevölkerung angebaut wird. Das ist massgebend dafür verantwortlich, dass unsere Versorgung mit Lebensmitteln zu 50 Prozent vom Ausland abhängig ist. Eine hohe Produktion von tierischen Lebensmitteln mit Importfutter wird toleriert und gefördert, was zu einer massiven Überdüngung der Schweiz mit Gülle und Ammoniak führt. Dadurch gehören in der Schweiz übermässige Stickstoff- und Phosphoreinträge in die Umwelt zu den Hauptgefährdungsursachen für die Biodiversität. Bei den stickstoffhaltigen Luftschadstoffen stammen ein Drittel aus Verkehr, Industrie und Haushalten und zwei Drittel stammen aus der Landwirtschaft, davon 90 Prozent Ammoniak-
emissionen der Tierproduktion.

Also statt Getreide und Mais für Tiere mehr einheimische pflanzliche Lebensmittel?

Richtig. Um dies zu bewerkstelligen, braucht es in Zukunft nachhaltige Anbausysteme, Misch- statt Monokulturen und mehr pflanzliche Lebensmittel auf unseren Ackerflächen. Vieles, Gemüse oder Hülsenfrüchte wie Gelb- oder Kichererbsen, kann hierzulande problemlos produziert werden.

Denkt die Schweizer Bevölkerung wohl gleich wie Sie und Ihre Mitstreiter?

Wir sind beim Unterschriftensammeln auf offene Ohren gestossen. Corona, der Ukraine-Krieg, zunehmende Klimaextreme: all das hat Bewusstsein geschaffen, wie wichtig eine nachhaltige Produktion und mehr Versorgung aus eigenem Boden sind. Die Initiative schliesst keine Ernährungsweise aus. Wir wollen aufzeigen, dass eine flexitarische Esskultur für Umwelt, Tierwohl und unsere Gesundheit und für unsere Ernährungssicherheit nur von Nutzen sein kann. Pflanzliche Lebensmittel sollten deshalb vom Bund mehr gefördert werden. Mit mehr Ernährungssicherheit aus eigenem Boden kann die Wirtschaft in der Schweiz gestärkt werden. Unsere Forderung, eine Erhöhung des Selbstversorgungsgrades auf 70 Prozent anzustreben, ist ein realistisches Ziel. Um dieses zu erreichen, braucht es aber zwingend Innovationsbereitschaft der Landwirtschaft und den vermehrten Anbau von pflanzlichen Lebensmitteln.

Die eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere Ernährung – durch Stärkung einer nachhaltigen inländischen Produktion, mehr pflanzliche Lebensmittel und sauberes Trinkwasser» (Ernährungsinitiative) wird am
16. August der Bundeskanzlei eingereicht. Wer dabei sein und die Initianten unter-stützen will, trifft sich um 13.30 Uhr auf dem Bundesplatz in Bern.

www.initiative-sichere-ernaehrung.ch


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