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Sich an den rettenden Strohhalm klammern

Abstimmung | Am 22. September 2024 stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Biodiversitätsinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft» ab. Befürworter und Gegner beziehen Stellung.

| Thomas Abplanalp | Politik
Landschaft
Die Initiative will die Vielfalt von Flora und Fauna erhalten. Bild: Thomas Abplanalp

 Die Initiative stellt eine Ergänzung zum Artikel 78 in der Bundesverfassung dar. Dieser enthält Bestimmungen zum Natur- und Heimatschutz. Der Artikel 78 hält beispielsweise fest, dass «der Bund bei der Erfüllung seiner Aufgaben Rücksicht auf die Anliegen des Natur- und Heimatschutzes nimmt». Durch die Ergänzung hätte der Bund nicht mehr nur im Rahmen der Erfüllung seiner Aufgaben Rücksicht zu nehmen, sondern das Bewahren von schutzwürdigen Landschaften und dergleichen würde zu einer eigenen Aufgabe des Bundes werden. Auch hätte der Bund nicht mehr nur die Aufgabe, Schutzobjekte zu schonen, sondern auch die Natur, Landschaft und baukulturelles Erbe ausserhalb dieser Schutzobjekte. Und vor allem enthält die Ergänzung den Begriff der Biodiversität. Der Bund hätte die Aufgabe, Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung zu stellen, die zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität notwendig wären. 

Biodiversität in der Schweiz

Der Trägerverein der Biodiversitätsinitiative betont auf seiner Internetseite, wie wichtig die Biodiversität für unser Überleben sei und dass es ihr in der Schweiz schlecht gehe. Zudem müssten Klimaschutz und Naturschutz zusammen angepackt werden. 

Die Gegner der Initiative wenden hierauf ein, dass die Schweiz zum Erhalt der Biodiversität bereits etwas tut. Als Erwiderung auf diesen Einwand verweist Manuel Herrmann von der Biodiversitätsinitiative auf den Bericht «Umwelt Schweiz 2022» des Bundesrats. Gemäss diesem Bericht steht die Biodiversität in der Schweiz unter Druck: «Fördermassnahmen zeigen zwar lokal Wirkung, doch die Biodiversität ist weiterhin in einem schlechten Zustand und nimmt weiter ab.» Ein Drittel aller Arten und die Hälfte der Lebensraumtypen der Schweiz sind gemäss dem Bericht gefährdet. Die Verluste der Biodiversität sind vorwiegend zurückzuführen auf «mangelnde Fläche, Bodenversiegelung, Zerschneidung, intensive Nutzung sowie Stickstoff- und Pflanzenschutzmitteleinträge».

Des Weiteren verweist der Trägerverein der Biodiversitätsinitiative auf den Bericht «Zustand und Entwicklung der Biodiversität in der Schweiz» vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) aus dem Jahr 2023. Darin steht: Die Biodiversität «ist nicht nur an sich erhaltenswert, sondern auch unser Sicherheitsnetz, die Basis unserer Ernährung, die Regulatorin des Klimas und die Voraussetzung für saubere Luft und sauberes Wasser.» Dennoch sei der Mensch gemäss dem Bericht dabei, die Grundlage seiner eigenen Existenz zu degradieren, «ohne sich der Tragweite seiner Handlungen bewusst zu sein». 

Herrmann verweist auch auf den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Biodiversität, der im Bericht vom BAFU und einer Antwort des Bundesrats auf eine Interpellation von 2022 erklärt wird. In letzterer steht: «Der Bundesrat ist sich bewusst, dass Biodiversitätsverlust und Klimaveränderung eng miteinander verknüpft sind.» Der Bundesrat sei daher bestrebt, die Massnahmen zur Bewältigung dieser beiden Krisen möglichst zu kombinieren.

Natur und Tourismus

Die Befürworter der Biodiversitätsinitiative heben die Wichtigkeit der vielfältigen Natur und der Landschaften für das Bild der Schweiz und für den Tourismus hervor. 

Die Gegner der Initiative wenden ein, dass durch die Initiative der Tourismus leide, weil entsprechende Infrastruktur aufgrund grösserer Schutzgebiete nicht mehr gebaut werden könnte. 

Manuel Herrmann von der Biodiversitätsinitiative verweist als Erwiderung auf die Wichtigkeit der Natur für die Schweiz als Tourismusstandort. In diesem Zusammenhang verweist Herrmann auf das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), das schreibt: «Die Attraktivität der Schweiz als Tourismusstandort beruht wesentlich auf den hohen landschaftlichen und baukulturellen Qualitäten.» Zudem stehen im Initiativtext keine Flächenziele.

Und gemäss Berechnungen des Bundesamts für Statistik (BFS) aus dem Jahr 2020 trägt das Angebot an wertvollen Natur- und Kulturlandschaften jährlich 19,3 Milliarden Franken zur kommerziellen Nutzung im Tourismus bei. «Schützen und Nutzen gehen Hand in Hand», sagt Herrmann. Es gebe zahlreiche Beispiele für erfolgreiche Lösungen, bei denen Schutz und Nutzung harmonierten. Dazu gehörten die Kulturlandschaft Klettgau, das Wasserkraftwerk Hagneck oder das Tourismusziel Chäserrugg im Toggenburg. Bei letzterem sei die gesamte touristische Infrastruktur in einem BLN-Gebiet, Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler, behutsam erneuert worden, wobei «hohe Naturwerte und Baukultur berücksichtigt wurden», sagt
Herrmann. 

Das Finanzielle

Weiter verweisen die Befürworter auf ihrer Seite auf potenzielle Kosten, die entstehen, wenn die Schweiz nichts gegen die fortschreitende Biodiversitätskrise unternimmt. Gemäss Schätzungen des Bundes steigen die  jährlichen Kosten des Biodiversitätsverlusts, sofern nichts weiter unternommen wird, in 2050 auf  14–16 Milliarden Franken. 

Hierauf könnten Gegner einwenden, dass diese Kosten weit in der Zukunft liegen und solche Schätzungen grundsätzlich schwierig sind. Und würde die Initiative angenommen werden, kämen für den Natur- (bzw. Klima-)schutz bereits kurz- und mittelfristig Kosten auf die Schweiz zu, wegen der Umsetzung. Deshalb bietet es sich eher an, die näher liegenden Kosten zu berücksichtigen, die sich besser einschätzen lassen. 

Gemäss Manuel Herrmann treten die ersten Kosten des Biodiversitätsverlusts nicht erst 2050 auf. Bereits heute fielen Kosten an, «denn praktisch alle Ökosystemleistungen der Natur sind in der Schweiz bereits beeinträchtigt». Zum Beispiel habe der Rückgang der Bestäuber bereits heute Auswirkungen auf die Landwirtschaft. 

Im Bereich der Schweizer Landwirtschaft betrage der geschätzte Wert der Bestäubung gemäss Agroscope etwa 350 Millionen Franken pro Jahr. Herrmann: «Diese Leistung lässt sich kaum durch technische Lösungen ersetzen.» Zudem sei es ethisch fragwürdig, heute entstehende Kosten auf künftige Generationen zu überwälzen. «Die heutigen Verluste in der Biodiversität sind unwiederbringlich.» 

Auch andernorts trügen wir bereits heute die Kosten für Klimaverlust und den Verlust von Lebensräumen und Biodiversität, man denke hier an zunehmende Überschwemmungen aufgrund des Klimawandels und des fehlenden Raums für Flussläufe. 

Herrmann verweist weiter auf den Global Risk Report von 2022 des World Economic Forum (WEF). Gemäss diesem Report sind die drei grössten globalen Risiken allesamt Umweltrisiken. «Die Risiken für die globale Wirtschaft und unseren Wohlstand, die mit dem Verlust von Biodiversität verbunden sind, werden als sehr hoch eingestuft», sagt Herrmann. Ein Bericht des Beratungsunternehmens PwC von 2020 zähle Biodiversitätsverluste ebenfalls zu den grössten Risiken für die Weltwirtschaft. Daraus schliesst Herrmann: «Es ist im grössten Interesse der Politik und der Wirtschaft, diese Risiken einzudämmen.»

Geschützte Flächen

Das Nein-Komitee kritisiert auf seiner Seite, dass mit der Annahme der Initiative rund dreissig Prozent der Schweizer Landesfläche für die Energieproduk­tion und Ressourcengewinnung unantastbar würden. Ein Einwand gegen dieses Argument besteht darin, den Status des Menschen in Frage zu stellen. Warum soll/darf sich der Mensch das Recht herausnehmen, über die gesamte Natur walten zu wollen? Wäre es nicht fair, der Natur und somit anderen nichtmenschlichen Lebewesen genügend geschützten Raum zu bieten? 

Gemäss Nein-Komitee entsprechen aktuell acht Prozent der Schweizer Landesfläche den ausgewiesenen und streng geschützten Naturschutzgebieten im Sinne des Initiativkomitees. Dieses wolle aber dreissig Prozent schützen lassen, wie Sandra Helfen­stein vom Nein-Komitee sagt. «Dort gibt es keine Landwirtschaft mehr, keine Energieproduktion und keine Holznutzung», so Helfenstein. Natürlich könne man sagen, man schütze einen Drittel der Schweiz, damit die Natur sich dort richtig entfalten könne. «Doch dann benutzen wir einfach mehr Land und Ressourcen in anderen Ländern», so Helfenstein, «indem wir Essen aus Deutschland, Atomstrom aus Frankreich oder Holz aus Skandinavien importieren.» Ökologisch sei damit nichts gewonnen. «Wir müssen einen Weg finden, um Schützen und Nützen zu kombinieren», sagt Helfenstein. 

Wirtschaft und Tourismus

Ebenfalls kritisiert das Nein-Komitee an der Initiative den potenziellen Schaden für die  Entwicklung der ländlichen Regionen und den Tourismus. 

Sofern die Initiative angenommen und umgesetzt würde, könnte ein Einwand gegen diese Kritik lauten, müssten sich die Wirtschaft und der Tourismus schlichtweg den neuen Gegebenheiten anpassen. Wenn beispielsweise Berggebiete touristisch geschwächt würden, hätte die Schweiz ja immer noch touristisches Potenzial. 

Aus Sicht des Nein-Komitees überzeugt dieser Einwand nicht. Was den touristischen Reiz der Schweiz ausmache, sei ein dichtes Netz an gut unterhaltenen Wanderwegen, netten Bergrestaurants und Seilbahnen, die den Zugang auch für weniger fitte Reisende gewährleisten. Dazu gehöre auch die abwechslungsreiche Berglandschaft, die dank der Sömmerung der Alpwirtschaft gepflegt werde. Und was bedeute das? «Wenn weniger Menschen im Berggebiet ein Auskommen finden, wird die Besiedlung umso dichter im Mittelland», sagt Helfenstein. 

Föderales Prinzip

Auch sieht das Nein-Komitee in einer Annahme der Initiative eine Untergrabung des föderalen Prinzips. 

Ein Einwand gegen diese Überlegung besteht darin, auf das Ziel der Sache zu verweisen. Könnte es in Anbetracht der Dringlichkeit des Themas nicht angebracht sein, das föderale Prinzip in diesem Kontext zu umgehen? Schliesslich geht es um eine höhere Sache, das Wohl künftiger Generationen auf diesem Planeten.

Diesen Punkt lässt das Nein-Komitee nicht gelten. «Die Herausforderung ist nun mal in Basel-Stadt eine andere als im Urnerland», so Helfenstein. Die Kantone und die Menschen darin seien umso motivierter, etwas umzusetzen, je eher sie den Nutzen sähen und die Umsetzung für ihre lokale Ausgangslage angepasst sei. 

Biodiversität

Das Nein-Komitee schreibt, dass die rechtlichen Grundlagen zur weitere Förderung der Biodiversität bereits vorhanden seien. Es bezieht sich dabei auf den Artikel 2 der Bundesverfassung, die Strategie Biodiversität des Bundesrats und den dazugehörigen  Aktionsplan des Bundes aus dem Jahr 2017. 

Ein Einwand besteht in der Aktualität des Aktionsplans. Mittlerweile hat der Bund nämlich neue Berichte veröffentlicht, in denen betont wird, dass in Sachen Biodiversität noch zu wenig passiert.

Auch mit diesem Einwand ist das Nein-Komitee nicht einverstanden. Seit den 90er-Jahren müsse jeder Hof mindestens sieben Prozent seiner Fläche für die Förderung der biologischen Vielfalt einsetzen. Im Schnitt seien es auf freiwilliger Basis neunzehn Prozent. «Damit stellt allein die Landwirtschaft die Fläche des Kantons St. Gallen für die Biodiversitätsförderung zur Verfügung», sagt Helfenstein. Dazu komme die Hälfte der Alpflächen, die als besonders artenreich eingestuft sei. «Wir haben also schon grosse Flächen.» Jetzt gehe es darum, gezielt zu schauen, dass diese Flächen auch den nötigen Nutzen brächten. Arbeit an der Qualität sei gefordert, nicht an der Quantität. Zudem bewirtschafteten die Initianten das Thema gezielt, um «ein möglichst dramatisches Bild zu zeichnen», so Helfenstein. Dass sich die Situation in den letzten fünfundzwanzig Jahren verbessert habe, passe nicht in das Narrativ der Initianten. «Dass gewisse Arten verschwinden und andere neu hinzukommen, liegt übrigens auch am Klimawandel», ergänzt Helfenstein, «da nützen alle Flächen der Schweiz nichts.» Wir müssten die Herausforderung anders angehen, aber nicht, indem wir die Möglichkeiten für erneuerbaren Strom mit einer Initiative aushebeln. Das passiert bei dieser Initiative gemäss Nein-Komitee.


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