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Alte Schule in neuen Zeiten

Inklusion | Anfang Sommer hat die FDP dargelegt, was sich in der Bildung auf Volksstufe ändern sollte. Ein Problem sieht sie unter anderem in inklusiven Klassen. Aktuelle Studien lassen Zweifel an den Änderungswünschen aufkommen.

| Thomas Abplanalp | Gesellschaft
Schulzimmer
Kinder aus aller Welt und mit allerlei Voraussetzungen: Inklusion. Bild erstellt mit Microsoft Designer

 

Konkret beschreibt die FDP 17 Handlungsfelder. Diese sollen eine «chancengerechte und zukunftsorientierte Bildung unserer Kinder ermöglichen». Ähnlich wie der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben erachtet auch die FDP die Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen als grundlegend wichtig. Deshalb seien diese zu fördern. Das bedeutet aber nicht, dass alle Schülerinnen und Schüler der Volksschule Goethe oder Kant verstehen müssen, sondern dass sie «einfache Texte verstehen und daraus Informationen entnehmen» können, wie die FDP auf Anfrage sagt. Und eine Schülerin oder ein Schüler könne dann schreiben, wenn sie oder er verständliche Texte verfassen könne. «Uns macht die grundlegende Entwicklung, wie sie aus den PISA-Studien beobachtbar sind, Sorgen», sagt die FDP. Gemäss PISA-­Studie sei in der Schweiz jeder vierte Schulabsolvent nicht in der Lage, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen.
Die FDP sieht zwei Erklärungen für diesen Befund. Entweder hätten gewisse Reformen der letzten Jahre die Ziele nicht erreicht oder seien gar kontraproduktiv gewesen. Oder aber die Schule habe nicht auf das sich veränderte Umfeld reagieren können. Bezogen auf die Sprachfähigkeit der fremdsprachigen Schülerinnen und Schüler bestehe das Problem offenbar dort, wo zur grossen Heterogenität der Klassen auch noch viele Kinder kämen, «welche die Unterrichtssprache (noch) nicht beherrschen», sagt die FDP.

Keine Inklusion um jeden Preis

Wie die FDP in ihren Handlungsfeldern weiter schreibt, habe sich die integrative Schule zu wenig bewährt. Sie benachteilige unter den gegebenen Voraussetzungen die lernschwachen Kinder und hindere den Regelunterricht. Unter integrativem oder inklusivem Unterricht ist in diesem Kontext Unterricht zu verstehen, in dem Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelklassen aufgenommen werden. Dabei befinden sich häufig Sonderpädagoginnen und -pädagogen in den Klassen, um die Kinder zu unterstützen.
«Integration ist erstrebenswert, aber Inklusion um jeden Preis ist nicht zielführend», sagt die FDP. Vorhandene Schwächen der Kinder müssten künftig wieder vermehrt gezielt und individuell angegangen werden können. «Die künstliche und sehr teure Gleichmacherei in Form einer ausnahmslosen Integration nützt niemandem und untergräbt die Chancengerechtigkeit», so die FDP weiter.
Die Aussage der FDP, dass eine integrative Schule lernschwache Kinder benachteilige, basiert gemäss FDP unter anderem auf einer Studie von 2022. Gemäss dieser Studie dürfe der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Lernschwächen oder speziellem Förderungsbedarf in einer Klasse nicht höher als 15 oder 20 Prozent sein. Ansonsten könnten die lernstarken Kinder nicht mehr vom Unterricht profitieren. In vielen Schulen sei die Zahl gemäss FDP heute aber höher. Integration sei dann sinnvoll, wenn sie den Bedürfnissen aller Kinder gerecht werde, und nicht, wenn nur die lernschwachen oder förderungsbedürftigen Kinder profitierten.

Noten als Mittel

Auch die Noten kommen in den Handlungsfeldern vor. Einerseits möchte die FDP Noten nicht abschaffen, andererseits solle den Kindern vermittelt werden, dass «sich der Wert eines Menschen nicht an einzelnen Noten in einem Schulfach bemisst und dass Scheitern zum Leben dazugehört». Noten seien ein Mittel, um Leistungen zu messen und Feedback zu geben. «Das Leistungsprinzip ist wichtig für die Entwicklung der Resilienz der Kinder», so die FDP, «und somit für ihren weiteren Lebens- und Bildungsweg.» Die Rückfrage, ob das Leistungsprinzip nur mit Noten gefördert werden könne, beantwortet die FDP nicht explizit und verweist auf die Aussagen im Papier, die deutlich genug seien. Sie betont, dass «ideologische Versuche, Noten abzuschaffen, abzulehnen sind».

Schweizer Geschichte

«Die Geschichte und das politische System der Schweiz dürfen nicht vernachlässigt werden», schreibt die FDP in ihren Handlungsfeldern. Nur wenn die Kinder und Jugendlichen «unser Land» verstünden, erhielten sie das Rüstzeug, um mündige und aktive Teilnehmende «unserer Demokratie» zu werden.
Auf Rückfrage bestätigt die FDP, dass «es mündige Bürger gibt, die sich nicht intensiv mit der Geschichte beschäftigen», gleichwohl verweist sie auf die Wichtigkeit historischer Grundkenntnisse zur informierten Teilhabe und zum besseren Verständnis der eigenen Staatsbürgerrolle. «Diese historische Perspektive kann helfen, die Werte und Prinzipien unserer Demokratie besser zu verstehen.»

Kein Platz für Ideologie

«Die Vermittlung des Unterrichtsstoffes erfolgt möglichst neutral, und die Medienkompetenz sowie schliesslich das eigene Urteilsvermögen sind zu stärken. Lehrmittel, deren Inhalte eine einseitige oder eine ideologisch geprägte Sichtweise vermitteln, haben keinen Platz in der Volksschule.» Auch diese Forderungen stehen in den Handlungsfeldern der FDP.
Auf die Rückfrage, ob nicht jeder Inhalt oder jede Auswahl an Unterrichtsmaterialien bereits ideologisch gefärbt seien, antwortet die FDP, dass es schwierig sei, völlig ideologiefreie Lernmedien zu finden, «da alle Bildungsinhalte in irgendeiner Weise Perspektiven und Werte widerspiegeln». Deshalb sollte der Fokus darauf liegen, Lern-
medien so neutral wie möglich zu gestalten und unterschiedliche Perspektiven einzubeziehen. Die Auswahl und Präsentation von Inhalten sollten da­rauf abzielen, objektive Informationen bereitzustellen und nicht einseitige Ideologien zu propagieren. «So können Schüler eine ausgewogene und kritische Sicht auf Themen entwickeln», antwortet die FDP.

Zu sehr alte Schule

Aktuelle Zahlen und Fakten aus der Bildungssoziologie lassen die Überlegungen der FDP in einem etwas anderen Licht erstrahlen. Wie Sandra Gilgen von der Abteilung Bildungssoziologie vom Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bern schreibt, seien die Aussagen bezogen auf den integrativen Unterricht der FDP wissenschaftlich widerlegt. Unter Verweis auf einen Forschungsbericht aus diesem Jahr und andere aktuelle Studien betont Gilgen vier Erkenntnisse aus der Bildungsforschung:
Erstens lernen Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungs­bedarf in Regelklassen mehr als in Sondersettings. Die Unterschiede variieren jedoch mit der Qualität des Unterrichts.
Zweitens, und hier besteht Einigkeit mit den Aussagen der FDP, solange der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf in einer Klasse nicht 20 Prozent übersteigt, werden Schülerinnen und Schüler ohne besonderen Bildungsbedarf nicht abgebremst.
Drittens wirkt sich der Besuch von separativen Schulsettings langfristig zum Nachteil von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Bedürfnissen aus, zum Beispiel in Bezug auf ihre Berufsbildungschancen und damit auf die Integration in den Arbeitsmarkt und die Teilhabe an der Gesellschaft insgesamt.
Viertens sind separative Settings sehr teuer und binden unnötig und ineffizient Ressourcen.
Insgesamt könne also gesagt werden, so Gilgen, dass separative Settings nicht nur teuer, sondern auch ineffizient seien. Ein erhöhtes Angebot an solchen Settings fördere auch die Nachfrage, und es würden dadurch insgesamt mehr Schülerinnen und Schüler langfristig und nachhaltig benachteiligt, ohne dass jemand einen Vorteil da­raus ziehe. «Während Schülerinnen und Schüler ohne besondere Bedürfnisse keinen Nachteil haben, wenn Schülerinnen und Schüler mit besonderem Bildungsbedarf bei ihnen in der Klasse integriert sind», sagt Gilgen, «ist die soziale Durchmischung für alle von Vorteil.» Es gelte also, weiterhin in Richtung mehr Inklusion zu gehen, da dieser Weg sowohl für die Einzelnen wie auch für die Gesellschaft an sich der sinnvollere Weg sei.




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