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Einfache Sprache ist nicht einfach

Bildung | Der 8. September ist Weltalphabetisierungstag. Der Tag soll auf die vielen erwachsenen Menschen hinweisen, die unzureichend lesen und ­schreiben können. In der Schweiz beträgt die Anzahl betroffener Erwachsener rund 800 000.

| Thomas Abplanalp | Gesellschaft
Buch
Viele Erwachsene in der Schweiz haben noch nie ein Buch gelesen. Bild: ta

Der Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben (DVLS) ist die nationale Dachorganisation für Grundkompetenzen. Er setzt sich dafür ein, dass alle Menschen einen sicheren Umgang mit den Grundkompetenzen erlangen können. Zu den Grundkompetenzen zählt der DVLS neben der mündlichen Ausdrucksweise das Lesen, Schreiben und Rechnen. Während der vergangenen Jahre kam eine weitere Kompetenz dazu, die digitale Kompetenz.
Das Lesen und Schreiben bildeten von diesen Grundkompetenzen die Basis, wie Tonja Bollinger vom DVLS sagt. Auch für das Rechnen und die digitalen Kompetenzen sei es unerlässlich, lesen und schreiben zu können. Diese vier Kompetenzen gälten als Grundkompetenzen, weil es sie «überall braucht», wie Bollinger sagt. «Es braucht sie im Berufsleben, im sozialen Miteinander und im Kulturellen.»

Schattenseite des Fachvokabulars

Wie Bollinger erklärt, gehe es bei den Grundkompetenzen Lesen und Schreiben nicht darum, literarisch anspruchsvolle Texte im Sinne eines Johann Wolfgang von Goethes oder eines Immanuel Kants zu verstehen oder zu produzieren. «Grundkompetenz bedeutet, dass man einen einfachen Text lesen und verstehen kann», so Bollinger. Im Alltag begegneten uns zu viele Texte, die zu kompliziert geschrieben seien. Das betreffe vor allem juristische Texte oder Verwaltungstexte. «Viele alltägliche Texte für die breite Bevölkerung enthalten zu viel Fachjargon und werden deshalb nicht verstanden.» Deshalb sei es zu begrüs­sen, wenn Verwaltungen wie der Kanton Bern Informationen in Einfacher oder Leichter Sprache zur Verfügung stellten.
Einfache und Leichte Sprache sind nicht dasselbe. Leichte Sprache richtet sich hauptsächlich an Personen mit kognitiven Einschränkungen. Die Ausformulierung von Texten ist dementsprechend vereinfachter als bei einfachen Texten. Bei Texten in Leichter Sprache gelten spezifische Regeln. Zum Beispiel, dass pro Linie nur ein Satz stehen darf und dass jeder Text vor der Publikation immer von einer Person gegengelesen werden muss, die eben Mühe mit dem Verstehen von Texten hat. Einfache Sprache hingegen hat keine Regeln, sondern gibt Empfehlungen. Dazu gehören beispielsweise die Regeln, kurze Sätze zu schreiben, keine komplizierten Wörter zu verwenden und das Formulieren von Schachtelsätzen zu vermeiden.

Einfach ist nicht falsch

Auch die Medien stehen hier in der Pflicht. In nicht wenigen Medien lässt sich in den vergangenen Jahren beispielsweise feststellen, dass Artikel häufig Titel enthalten, die zwar für viele Klicks sorgen, den Informationsgehalt des Artikels aber verfälschen. Die Inte­ressen scheinen hier also eher monetärer als journalistischer Natur zu sein.
Dieses Phänomen verdeutlicht einen wichtigen Aspekt Einfacher Sprache: «Einfache Sprache ist nicht einfach», so Bollinger. «Einen Text in Einfacher Sprache zu formulieren, braucht mehr Überlegungen.» Es gehe nämlich nicht nur darum, Informationen oder Fakten stimmig rüberzubringen, sondern eben auch verständlich. Es sei schön, wenn Institutionen diesen Aufwand betrieben. Bollinger verweist hier beispielsweise auf Easyvote. Die Plattform setzt sich zum Ziel, Politik einfach, verständlich und möglichst neutral zu erklären.
Um Unternehmen für die Einfache Sprache zu sensibilisieren, bietet der DVLS Schulungen an. Fachpersonen erklären dort, was Einfache Sprache ist und worauf man achten muss. Vor allem sei es wichtig, Texte vor ihrer Veröffentlichung immer gegenlesen zu lassen. «Einen Text in Einfacher Sprache zu lesen, ist für alle angenehmer», so Bollinger, «auch für jene, die Fachliteratur lesen.»

Strategien und Scham

Dass so viele erwachsene Menschen in der Schweiz nicht richtig lesen und schreiben können, hat vielfältige Gründe und lässt sich deshalb nicht einfach auf eine oder zwei Ursachen reduzieren. Unabhängig von den Gründen sei das Thema mit Scham behaftet. «Viele Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können, schmuggeln sich irgendwie durchs Leben», sagt Bollinger, «sie haben Strategien entwickelt, um damit klarzukommen.» Vielleicht erledige der Partner oder die Partnerin die administrativen Angelegenheiten zu Hause. Vielleicht delegierten die Personen auf der Arbeit die entsprechenden Tätigkeiten. «Schwierig wird es dann, wenn diese Strategien wegbrechen, beispielsweise durch eine Trennung oder einen Arbeitswechsel», erklärt Bollinger. In solchen Fällen biete es sich an, einen Schritt auf den DVLS hin zu machen, um einen Kurs zu besuchen.
Die Hürde, wieder mit Lernen einzusteigen, sei für viele aber relativ hoch. «Die Schule ist für betroffene Personen nämlich häufig ein Trauma», so Bollinger. Einige Personen litten in der Schule unter Mobbing, hatten ein schlechtes Verhältnis zu ihren Lehrpersonen oder waren häufig abwesend. Die Gründe seien auch hier vielfältig. Auch müsse man darauf achten, die Schuld nicht pauschal der Schule zuzuschreiben.
Viele Personen mit zu wenig ausgeprägten Grundkompetenzen überlegten sich gar nicht, das Lesen und Schreiben vertiefter zu lernen, weil es «bisher immer irgendwie gegangen ist». Gemäss Bollinger könne das soziale Umfeld hier eine wichtige Rolle spielen. Wer eine Person kenne, die Mühe mit Lesen und Schreiben habe, könne diese in einer ruhigen Situation auf Augenhöhe ansprechen. «Wichtig ist in solchen Gesprächen, dass sich die betroffene Person wohlfühlt», so Bollinger. Vielleicht reagiere die Person in dieser Situation brüskiert, dennoch könne man sie auf entsprechende Angebote hinweisen und sie ermutigen.
Um einfache Texte lesen zu können, sei es wichtig zu üben und sich nicht zu schämen. «Steht eine Person dazu, dass sie Mühe mit Lesen und Schreiben hat, nimmt es ihr den Druck weg», sagt Bollinger. Für das Umfeld sei es entsprechend wichtig, betroffenen Personen Zeit zu geben und ihnen Unterstützung anzubieten.
Bollinger vermutet, dass bei Erwachsenen im Vergleich zu Kindern deutlich mehr Hemmungen und Ängste vorhanden sind, weshalb ihre Scham auch grös­ser sei. «Kinder hingegen verfügen häufig über eine grössere Neugier und gehen deshalb einfacher ans Lernen ran.»

Üben, üben, üben

Die Zahl der Menschen, die in der Schweiz Mühe mit Lesen und Schreiben haben, basiert auf einer Studie aus dem Jahr 2006. Ende Jahr erscheint eine neue Studie. Der DVLS geht nicht von einer Verbesserung aus, weil die Anforderungen gestiegen seien, vor allem in Hinblick auf die Digitalisierung. Zum Beispiel müssten immer mehr Formulare selber ausgefüllt werden, und immer häufiger müsse man Informationen selber zusammensuchen.
Zwar böten digitale Möglichkeiten viel Erleichterung, beispielsweise in Form von aufgenommenen Sprachnachrichten. Diese könne aber auch dafür sorgen, dass sich betroffene Menschen noch weniger mit dem Lesen und Schreiben konfrontierten und ihnen dadurch die Routine verloren ginge. Die Digitalisierung und das Potenzial von KI seien deshalb «Fluch und Segen» zugleich, so Bollinger.Thomas Abplanalp

Menschen, die Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben haben, finden Kurse und niederschwellige Lernangebote auf der Website www.einfach-besser.ch. Die kostenlose
Beratungshotline 0800 47 47 47 des
Schweizer Dachverbands Lesen und Schreiben gibt zudem telefonisch Auskunft.




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