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Warum sie Thuns Tauben füttert

Taubenexpertin | Seit neun Jahren füttert Ruth Gerber die Thuner Tauben mit artgerechtem Futter. Die Stadt hat davon Kenntnis und lässt sie gewähren. Was viele nicht wissen: Ruth Gerber leistet Menschen und Tieren dadurch einen grossen Dienst. 

Taubenfrau
Sie kennen einander: Ruth und die Stadttauben – die dank ihrer Fütterung den Restaurants fernbleiben. Bild: zvg

Alle zwei, drei Monate hält ein Camion vor Gerbers Haus in Thun. Sie, eine pensionierte Medizinische Praxisassistentin – die sich auch hätte vorstellen können, Lehrerin zu werden, weil sie gern Wissen vermittelt –, und ihr Mann, ein pensionierter Rechtsanwalt und Notar, nehmen 22 Säcke entgegen. 25 Kilo wiegt einer. Rund 20 Franken kostet einer. Gefüllt sind die Säcke mit Taubenfutter. «Zum Glück haben wir eine gros­se Garage» schmunzelt Ruth Gerber. 

Information ist alles

Seit neun Jahren füttert Ruth Gerber die Thuner Stadttauben. Jeden Morgen steht sie zwischen 7 und 7.30 Uhr bei den beiden Fütterungsplätzen am Bahnhof und in der Schwäbisallee, im Winter eine Stunde später. Jeweils einmal pro Woche hütet Gerber ihre fünf Enkelkinder in Zofingen und Spiez; eines davon ist noch ein Säugling. «Bis vor Kurzem haben mein Mann und ich am Dienstag um 5.20 Uhr das Haus verlassen, um die Tauben gemeinsam zu füttern, damit ich den 6-Uhr-Zug erwischte, um zum Hüten vor Ort zu sein, bevor die Eltern zur Arbeit mussten. Mein Mann unterstützt mich dabei», freut sich Gerber. 

Die 73-Jährige füttert nicht einfach willkürlich. «Ich messe das Futter jeden Tag ab. Jede der ungefähr 300 Stadttauben erhält 40 Gramm.» Von Fachpersonen empfohlen seien zwischen 35 und 50 Gramm pro Taube und Tag, erklärt Gerber. An einem der beiden Fütterungsplätze sind es 200 Tauben, am anderen 100. Das bedeutet für Ruth Gerber, dass sie acht Kilo Futter hierhin und vier Kilo dorthin schleppen muss. Da die Tiere klug sind, wissen sie, wohin sie fliegen müssen. «So lassen sich die Tauben auch gut zählen.» Durch deren Bewegungen können sie natürlich nicht einzeln zählen. «Aber im Zehnerpack geht das ganz gut», so die erfahrene «Taubenmutter». Wie viele Tauben in der Stadt leben, weiss man nicht genau, geschätzt 500, das heisst, dass man nicht alle Tauben mit der Fütterung erreichen kann.

Warum sie das Futter so akribisch abwiegt und die Tiere zählt, begründet Gerber so: «Ich will mich nicht dem Vorwurf aussetzen, ich würde die Tauben überfüttern. Auch will ich beweisen können, dass der Taubenbestand durch die Fütterung nicht zunimmt.» Denn sie werde, zu 90 Prozent von älteren Menschen, verbal angegriffen. «Diese lassen sich leider auch nicht aufklären, warum es wichtig ist, die Tiere zu füttern.» Viele spielten sich auf, als seien sie selbst Vogelexperten. «Dies geschieht leider auch, weil die Medien in Bezug auf Tauben falsch informieren.» 

Stadttauben seien verwilderte Haustiere und zum Teil gestrandete Brief- und Hochzeitstauben. «In der Schwäbis­allee sind seit einigen Jahren zwei Hochzeitstauben dabei.» Stadttauben seien obdachlos und bräuchten Nistplätze in Form von Taubenschlägen. «Da sie von Felsentauben abstammen, können sie nicht auf Bäumen brüten, sondern brauchen dazu Nischen und felsenähnliche Strukturen, welche sie in den Städten finden.» Stadttauben dürften nicht mit Wildtauben (in den Gärten sind oft Türken- oder Ringeltauben anzutreffen) verwechselt werden. «Sie haben einen angezüchteten Bruttrieb und brüten daher unabhängig vom Futterangebot, das heisst, sie können nicht, wie bei Wildtieren, über das Futterangebot reguliert werden. Auch unter­ernährte Tiere pflanzten sich fort.»

Keine Plage, sondern Genies

Zum Taubenprojekt sei es vor neun Jahren gekommen, weil jene Bekannte, die die Tauben vor ihr fütterte, schwer erkrankt sei. «Einen Tag nachdem ich ihr versprochen hatte, die Tiere weiterhin zu füttern, konnte sie sterben», sinniert Gerber. 

Aus welchem Grund aber füttern sie die Tauben, Frau Gerber? «Stadttauben werden von vielen als Plage wahrgenommen. Auch weil sie, werden sie nicht gefüttert, tagsüber scharenweise auf Futtersuche sind.» So störten sie in Restaurants und auf öffentlichen Plätzen. «Es gibt Reklamationen. Was meistens dagegen getan wird: Es wird eine Schädlingsbekämpfungsfirma aufgeboten, die Tauben werden eliminiert.» Tötungsaktionen seien aber weder ethisch vertretbar noch eine nachhaltige Lösung zur Bestandesregulierung. So begann Ruth Gerber, sich bei Fachpersonen zu erkundigen, was wirklich sinnvoll sei – und weiss heute enorm viel über die genialen Tiere, die stets gern nahe bei den Menschen lebten. So habe sich der verstorbene deutsche Rudolf Reichert ein Leben lang mit Stadttauben auseinandergesetzt und bewirken können, dass die Stadt Augsburg, als erste deutsche Stadt, Taubenschläge errichtet habe. «Die Vögel werden dort gefüttert, und es wird eine Geburtenkontrolle durchgeführt, indem echte Eier mit Gipseiern ersetzt werden. Dies ist eine Win-win-Situation für Mensch und Tier.» Das Tauben-Modell der Stadt Bern sei jenem von Augsburg ähnlich. «In Bern werden zusätzlich Sterilisationen der Männchen durchgeführt.» Ob dies sinnvoll oder tiergerecht sei, könne sie sich nicht sagen, da sie sich zu wenig damit auseinandergesetzt habe, so Gerber bescheiden. «Doch dass Tauben oft als Plage wahrgenommen werden, stört mich! Menschen, die sich nicht selbst tiefer mit einem Thema befassen, prägen sich dieses falsche Medienbild ein.» 

Federführend in Sachen Falschinformationen seien Berichte von Schädlingsbekämpfungsfirmen, die sich oft auf einen einzelnen Experten beriefen. Leider hätten sich auch der Tierschutz Schweiz und die Vogelwarte Sempach davon irritieren lassen. «Immerhin hat der Tierschutz vor einigen Jahren die Brief-, respektive Hochzeitstaube zum Thema gemacht und gezeigt, wie grausam solche Praktiken sein können und dass viele Tiere in den Städten landen, weil sie ihren Heimatschlag nicht mehr finden.» Berichte allein genügten nicht, «der Tierschutz müsste bei diesem Thema dranbleiben.» Zum Thema Krankheiten übertragen weiss Ruth Gerber: «Gemäss vielen Expertenberichten übertragen Tauben genauso viel oder wenig Krankheiten wie andere Tiere auch.»

Zupackend und hilfsbereit 

Baue man den Stadttauben keine Schläge oder gar die wünschenswerten Taubentürme als Zufluchtsorte, so versuchten sie überall zu nisten: auf Fenstersimsen, Balkonen usw. «Sie nisten, wie erwähnt, nicht auf Bäumen, sondern an felsenähnlichen Orten.» Viele riefen dann die Polizei an, die meist überlastet sei mit vielen andern Themen. Anlaufstelle sei auch «Stadttauben Schweiz». Gehe es um das Nisten in der Stadt Thun, so werde sie informiert. «Ich habe sogar Gips-Eier zu Hause, die ich mit den echten austausche. Dies muss aber in den ersten Tagen nach dem Legen geschehen, wenn der Embryo noch nicht ausgebildet ist.»

Wichtig zu wissen sei auch, dass der störende flüssige Taubenkot darauf hinweise, dass die Tauben Hunger hätten. «Kot von gefütterten Tauben ist krümelig und verstaubt, deshalb muss man im Taubenschlag eine Maske tragen.» Was Gerber besonders betont: «Zusätzliche Fütterungen der Passantinnen und Passanten mit Brot oder anderen Lebensmitteln sind kontraproduktiv.» Deshalb wünsche sie sich, dass die Stadt Thun informieren würde, warum die Tauben einmal täglich gefüttert werden. «So könnten alle Plakate gegen wildes Taubenfüttern entfernt und Geld gespart werden.» In Bezug auf Verschmutzungen durch Tauben wolle sie betonen: «Ich bin frühmorgens oft vor der Putzmannschaft der Stadt unterwegs. Der liegengelassene Müll der Menschen, meist nichtorganisch, übertrifft den Kot der freilebenden Tiere bei Weitem.» Gewettert werde aber stets gegen die Tiere. «Gegen Wehrlose. Menschen werden in diesem Zusammenhang in den Medien kaum erwähnt. Und solch negative Berichte prägen sich dann eben in den Köpfen der Leserschaft ein.» 

Sie wolle aber auch erwähnen, dass es viele Menschen gebe, die das Gespräch mit ihr suchten und ihr sogar dankten. «Diese gehen meistens davon aus, dass ich von der Stadt Thun angestellt sei.» Doch dem ist nicht so: Die «Taubenmutter» ist im Alleingang unterwegs. Frau Gerber, das Futter ist ja bestimmt nicht günstig? «Nein, ich bezahle die Futterkosten jährlich aus der eigenen Tasche», so Gerber zögernd. Ihr ist es wichtig, dass an dieser Stelle erwähnt wird, dass sie dankbar sei, dass die Stadt Thun es dulde, dass sie diese Arbeit übernehme. Und sie gewähren lasse. Denn manchmal gingen auch Reklamationen bei der Polizei ein, aus oben erwähnten Gründen: «Diese Menschen denken, ich tue etwas Falsches.» Doch die Polizei wisse Bescheid und könne aufklären. 

Treue Liebe bis in den Tod

Dass Tauben viele Gaben haben und sich ein Leben lang treu bleiben, ist wohl bekannt. So wie Ruth Gerber den Tauben treu bleibt. Dennoch sucht die «Taubenmutter» ein bis zwei Personen, die gewillt wären, mit ihr die Verantwortung der Fütterungen mitzutragen, bis Taubenschläge zur Verfügung stehen. «Ich bin bis jetzt fit und gesund, aber ich bin auch nicht mehr die Jüngste …» (Der «Berner Landbote» leitet Anfragen gern weiter.) 

Die Tauben seien ihr «Projekt», so die Mutter und Grossmutter, die keine tierischen Produkte konsumiert (wie auch ihr Mann nicht). Tiere bedeuteten ihr viel. Als sie elf Jahre jung war, zogen ihre Eltern mit ihr von der Stadt aufs Land. So habe sie erleben müssen, wie Katzen ertränkt, Hunde getreten und «ganze Vogelnester ins Feuer geworfen wurden, weil die Vögel den Menschen die Beeren wegfrassen.» Von diesem Moment an habe sie gewusst, dass sie sich für Tiere einsetzen wolle: «Wer kann es denn sonst tun, wenn nicht der Mensch?!» Wie ein Mensch mit Tieren umgehe, daraus schliesse sie auf seinen Charakter. «Ich freue mich immer, mit Menschen in Kontakt zu kommen, welche die Fähigkeit zum selbstständigen Denken besitzen, den Begriff Achtsamkeit nicht nur gegenüber sich selbst leben, sondern gegenüber allen Lebewesen, und erkennen, dass es bei allen Themen nicht nur eine Wahrheit gibt.» Seit vielen Jahren begleiteten sie die Worte von Mahatma Gandhi: «Die Grösse und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt.»

 

Anmeldung für die Taubenzählung am

Mittwoch, 11. September, in Bern:

tierpark-bern.ch/stadttauben 

Anmeldung für eine Fütterungs-BegleitungMontag, 16., oder Samstag, 21. September: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
(Anmeldung bis Samstag, 14. September). 

www.stadttauben.ch

www.generationentandem.ch (Nr. 50: «Die Stadttaube – Plädoyer für ein verkanntes
Genie», Interview mit Ruth Gerber, Thun)

www.arbeitskreis-kirche-und-tiere.ch

www.tierimrecht.com

www.sentience.ch

www.peta-schweiz.ch

www.nationalgeographic.de («Ratten der Lüfte»)

 


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