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«Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen»

Interview | Daniel Winkler ist Pfarrer in Riggisberg und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Asylwesen und mit Menschen, die in unser Land flüchten mussten. Als wichtig erachtet er eine erfolgreiche Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Dazu braucht es ein zivilgesellschaftliches Engagement.

| Adrian Hauser | Gesellschaft
Asyl
Pfarrer Daniel Winkler: setzt sich auch bei politisch kühlen Temperaturen für Flüchtlinge ein. Foto: Adrian Hauser

Sie beschäftigen sich seit bald 10 Jahren mit der Asylproblematik. Wie kam es dazu?
Im Sommer wird es zehn Jahre her sein, dass das Durchgangszentrum in Riggisberg eröffnet wurde. Vorher habe ich mich nicht so stark mit Politik befasst. Doch die Auseinandersetzung mit geflüchteten Menschen hat mich dazu gebracht, mein politisches Engagement zu verstärken. Die Frage ist, wie wir als Gesellschaft mit diesen Menschen umgehen und wie wir ihnen die bestmögliche Unterstützung geben können, um sich zu integrieren. Denn sie möchten der Gesellschaft in der Regel nicht auf dem Portemonnaie sitzen, sondern wollen arbeiten und etwas Sinnvolles tun. Es geht aber auch darum, Wege zu finden, um Vorurteile abzubauen. 

Was war ihre Grundmotivation, gerade auch als Pfarrer, sich für dieses Thema zu engagieren?
Ich bin der Meinung, dass es zum Grundauftrag der Kirche gehört, sich mit Menschen auseinanderzusetzen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Das können Geflüchtete sein, aber auch Personen in der Sozialhilfe, ältere Menschen, oder Personen mit Beeinträchtigungen. Für unsere Kirche leitet sich das von unserem Vorbild Jesus Christus ab, der sich stark mit Menschen am Rande der Gesellschaft beschäftigt hat. Es gibt bereits im Alten Testament 53 Appelle und Gebote, mit Menschen aus der «Fremde» anständig umzugehen.

Sollten sich die Kirche und ihre Vertreter nicht politisch neutral verhalten?
Kürzlich sagte mir ein Unternehmer aus dem Dorf, dass er sich politisch neu-tral verhalte, um keine Kunden vor den Kopf zu stossen. Das war mir gegenüber natürlich ein Wink mit dem Zaunpfahl. Aber gehört es nicht zum Wesen einer Demokratie, dass sich möglichst viele Personen und Gruppen in einem Gemeinwesen ins politische Geschehen einbringen? Und darf es sein, dass bestimmte Gruppen wie kirchliche Vertreter aus dem politischen Prozess ausgeschlossen werden?

Wie ist denn die Stimmung im Dorf Riggisberg gegenüber Asylsuchenden?
Ich freue mich, dass unser Dorf respektvoll mit diesen Personen umgeht. Es gibt Einzelpersonen und Familien, die mit ihren Kindern bereits seit 10 Jahren hier sind. Seit Kurzem gibt es im Gur-nigelbad ein Integrationszentrum, und diese Menschen sind in unserem Dorf ebenfalls sichtbar. Inzwischen hat man sich an die zusätzlichen Flüchtlinge gewöhnt. Aber es gibt natürlich auch Personen, die Ängste mit diesem Thema verbinden.

Wie begegnen Sie solchen Ängsten?
Ich versuche, Brücken zu bauen. Wichtig, um Ängste abzubauen, ist die Begegnung. Dann sind diese Menschen plötzlich nicht mehr anonyme Gruppen, sondern erhalten ein Gesicht. Deshalb gibt es im Gurnigelbad auch Begegnungsmöglichkeiten. Leider ist es vom Dorf etwas weit weg, aber es gibt jetzt zusätzliche Postautokurse. Es hat sich inzwischen eine starke Freiwilligenarbeit gebildet. Ich stehe dabei bloss beratend zur Seite, die Koordination macht jemand anders. 

In welcher Situation befinden sich die Menschen im Gurnigelbad?
Die Personen im Gurnigelbad befinden sich in der zweiten Phase des Asylprozesses. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass sie eine Anerkennung oder eine vorläufige Aufnahme erhalten. Sie werden also höchstwahrscheinlich länger in der Schweiz bleiben. Daher ist es wichtig, dass man diesen Personen den Schritt in unsere Gesellschaft möglichst erleichtert. Das hängt meiner Meinung nach auch sehr stark vom zivilgesellschaftlichen Engagement ab. Freiwilligengruppen können vor allem auch beim Spracherwerb Unterstützung bieten, was entscheidend ist, um sich zu integrieren und irgendwann in den Arbeitsprozess hineinzukommen. Alle Personen im Dorf, die vor zehn Jahren hier ankamen, befinden sich heute im ersten Arbeitsmarkt. 

Wo arbeiten diese Personen?
Viele arbeiten in Institutionen im Dorf: in der Pflege, in der Küche, in der Wäscherei, im Putzdienst, in Werkstätten und in der Gärtnerei – teilweise auch in KMU. Die Jüngeren befinden sich in Ausbildungen, ältere Personen arbeiten teilweise als Ungelernte. Freiwilligengruppen sind bei der Arbeitsintegration hilfreich, weil sie die regionalen Verhältnisse und die Arbeitsmöglichkeiten vor Ort kennen. 

Übernimmt dabei nicht die Zivilgesellschaft eine Aufgabe, die der Staat eigentlich erledigen sollte?
Es muss ein Hand in Hand von zivilgesellschaftlichem und behördlichem Engagement sein. So wie ich es erlebe, können die behördlichen Stellen oft nicht genug leisten, um den Betroffenen den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dies, obwohl sie für die Integration inzwischen sehr viel Geld erhalten. 

Sind die Behörden überfordert?
Ja, aber das ist auch verständlich. Denn sie kennen die Verhältnisse vor Ort nicht. Man kann nicht alles staatlich regeln. Diese Menschen brauchen Beziehungen, Freundschaften und Sichtbarkeit. Jeder Mensch will gesehen werden, und wer nicht gesehen wird, fühlt sich unansehnlich. Zu den staatlichen Institutionen besteht mit dem Case Management eine eher technische Beziehung. Aber die wichtigen Schritte müssen innerhalb eines zivilgesellschaftlichen Prozesses erfolgen. Wo dies nicht gegeben ist, tun sich die Leute viel schwerer mit der Integration. Wir haben den Geflüchteten in Riggisberg starke Unterstützung geboten. Heute sind sie Nachbarn, und es sind teilweise Freundschaften zur einheimischen Bevölkerung entstanden.

Was sind denn die aktuellen Herausforderungen der regionalen Flüchtlingsarbeit?
Die Leute im Gurnigelbad fühlen sich, vor allem jetzt im Winter, sehr einsam. Aber sie sind gleichzeitig sehr dankbar, dass sie hier sein dürfen und nicht im Kriegsgebiet oder in Gefahr sein müssen. Nicht zuletzt durch die Freiwilligenarbeit sind die Bedingungen im Gurnigelbad ziemlich gut. 

Nebst dem Gurnigelbad gibt es auch das Rückkehrzentrum in Enggistein. Wie ist die Situation dort?
Ich beschäftige mich seit Längerem mit der Situation von Menschen in Rückkehrzentren. Bei diesen Menschen ist vorgesehen, dass sie in ihr Herkunftsland zurückkehren. Die Schweiz ist im europäischen Vergleich bei der Rückschaffung von abgewiesenen Asylsuchenden führend. Viele Personen aus den Maghreb-Staaten werden sehr konsequent zurückgeführt. Es gibt jedoch Länder, in denen erschwerte Rückführungsbedingungen bestehen. Das ist beispielsweise in Eritrea, Iran und Tibet der Fall. Es gibt Personen, über die nach altem Recht vor der Einführung des neuen Asylgesetzes von 2019 entschieden wurde. Diese Menschen leben teilweise seit Jahren in Rückkehrzentren und in Nothilfestrukturen, die ein menschenwürdiges Leben verhindern. Die Nothilfe ist noch tiefer als die Asylsozialhilfe – beides liegt deutlich unter der regulären Sozialhilfe. Die Menschen in der Nothilfe können von diesem Geld also kaum leben, dürfen gleichzeitig aber nicht arbeiten. Sie leben seit Jahren in einer unmöglichen Zwangssituation und haben überhaupt keine Lebensperspektive. Sie können nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und haben zu wenig Geld für den öffentlichen Verkehr. Gleichzeitig können sie auch nicht in ihr Heimatland zurück. Mit Eritrea beispielsweise besteht kein Rückübernahmeabkommen. Das hat auch seine Gründe, denn Eritrea ist eine Steinzeitdiktatur. 

Warum werden solche Personen denn abgewiesen?
Das hat einen realpolitischen Grund. Man will die Sogwirkung stoppen, damit weniger Leute aus solchen Ländern in die Schweiz kommen. Die Bedingungen in diesen Ländern sind sehr schlecht und niemand geht freiwillig dorthin zurück, weil es viel zu gefährlich ist. Diese Leute sind nicht einfach renitent, wie teilweise behauptet wird. Sie fliehen vor repressiven Regimes und Lebensgefahr.

Wie geht es den Leuten in den Rückkehrzentren?
Diese Menschen gehen physisch und psychisch kaputt. Eigentlich ist es eine Form der Halbgefangenschaft. Entweder implodieren sie und werden depressiv oder sogar suizidal. Im dümmsten Fall explodieren sie und werden aggressiv. Viele werden körperlich krank und sind häufig beim Arzt. Sie erleben eigentlich eine ähnliche Situation wie die erwachsenen Administrativversorgten im vergangenen Jahrhundert.

Stimmt es, dass die Migration stetig zunimmt, wie einige behaupten?
Der Begriff Migration ist teilweise sehr missverständlich. Es gibt Arbeitszuwanderung und Asylmigration. In der öffentlichen Wahrnehmung entsteht manchmal der Eindruck, dass wir von Flüchtlingen geflutet werden. Das ist aber nicht so. Es kommen drei bis vier Mal mehr Menschen im Zuge der Arbeitszuwanderung in die Schweiz wie als Flüchtlinge. Durch die Arbeitszuwanderung kommen Leute, die unsere boomende Wirtschaft braucht. Man spricht von Migration, differenziert dabei aber nicht. Solange die Wirtschaft gut laufen soll, braucht es die Arbeitszuwanderung. Bei den Flüchtlingen, die gemäss Genfer Flüchtlingskonvention aufgenommen werden müssen, ist es wichtig, diese möglichst schnell in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Denn so könnte man die grosse Arbeitszuwanderung minimieren. Ich möchte damit nur darauf hinweisen, dass in der öffentlichen Diskussion verschiedene Themen miteinander vermischt und mit Zahlen teilweise unsorgfältig umgegangen wird.


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