Durch das Berufsbildungszentrum IDM reifer in die Berufswelt
Spiez/Thun | Drei Tage im Betrieb, zwei Tage in der Schule: Viele Spitäler, Institutionen und Betriebe wissen nicht um die Möglichkeit der Vorlehre oder verwechseln sie mit der Anlehre. Zeit, um dieses für junge Menschen so wertvolle Reifejahr, das nichts mit mangelnden Fähigkeiten zu hat, bekannt zu machen.
Das Angebot ist in dieser Form einzigartig: Die Vorlehre des kantonalen Berufsbildungszentrums (BBZ) IDM in Spiez. Der Name steht für «Industrie, Dienstleistung und Modegestaltung», aber auch für «Ich, Du, Miteinander». Die Vorlehre habe wenig mit einem klassischen zehnten Schuljahr zu tun, sagt Beate Wolf, Klassenlehrerin Vorlehre. Sie unterrichtet unter anderem Lernende im Bereich Gesundheit, also angehende Pflegefachpersonen, Praxisassistentinnen und -assistenten. «Gerade in den anspruchsvollen Gesundheitsberufen ist es von Vorteil, wenn junge Menschen, welche die Ausbildung zur Pflegefachfrau oder zum Pflegefachmann in Angriff nehmen, nicht gleich nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit in die Lehre einsteigen, sondern noch ein Reifejahr absolvieren.» Gerade im Bereich Gesundheit und Soziales seien die zwischenmenschlichen Anforderungen hoch, ergänzt Michael Klein, Bereichsleiter BPA und Vorlehre und Abteilungsleiter-Stellvertreter Brückenangebote. «Sowohl im Gesundheitsbereich als auch in der Baubranche wird es als gros-ser Vorteil angesehen, wenn ein junger Mensch vor Lehrbeginn ein Jahr länger reifen durfte. Betriebe oder Institutionen stellen lieber Lernende ein, die wissen, wie sich die Arbeitswelt anfühlt, und nicht nur das Klassenzimmer kennen.»
Betriebe sollen sich für Vorlehren öffnen
Ein Riesenvorteil der Vorlehre sei, dass die Lernenden drei Tage pro Woche im Betrieb und zwei in der Schule seien. Wolf: «Sie wissen nach der Vorlehre, worauf sie sich in der Lehre einlassen.» Klein: «Auch die Ausbildungsverantwortlichen in den Betrieben wissen schliesslich, wen sie einstellen.» Wolf: «Und wenn die Jugendlichen nach der Vorlehre die Lehre beginnen, wollen sie diesen Beruf auch wirklich erlernen.» Zudem hätten sie bereits Berufserfahrung, mehr Selbstvertrauen, seien selbstständiger und eben reifer. Was wiederum allen Seiten zugutekäme. «Ich erlebe immer wieder, wie die Lernenden in der Vorlehre aufleben. Weil sie fühlen, dass sie gebraucht werden, dass sie etwas können und dazugehören.» Die Vorlehreabsolvierenden verstünden bei Antritt der Lehre viel besser, warum sie dies und jenes machen müssten, wie zum Beispiel Vorausplanen. Klein: «Lehrpersonen können Lernende spezifisch unterstützen, weil sie durch die Rückmeldungen des Lehrbetriebes wissen, was es braucht, damit es funktioniert.»
Ein grosses Problem sei, dass Betriebe und Institutionen gar nicht wüssten, dass es die Möglichkeit der Vorlehre gebe. «Dies wollen wir ändern.» Das Absolvieren einer Vorlehre sei für alle Beteiligten niederschwellig und stehe allen Berufs-Genres offen. Wie bei einer Lehre müsse ein Antrag gestellt werden, der aber leichter zu erfüllen sei. «Wichtig ist, dass sich die Betriebe und Institutionen vermehrt für die Vorlehre öffnen und die Lehrpersonen der siebten bis neunten Klassen darüber informieren.»
Eine Vorlehre ist keine Anlehre
Was Klein und Wolf wichtig ist: «Eine Vorlehre hat nichts mit mangelnden Fähigkeiten oder einer sogenannten Anlehre zu tun.» Und: «Vorlehre-Lernende sind keine billigen Arbeitskräfte!» Wie die spätere Ausbildung folge auch die Vorlehre einem Bildungsplan, den die Betriebe in Anlehnung an das erste Lehrjahr entwickelten. Es werde Augenmerk darauf gelegt, dass die Lernenden nicht ausgenutzt würden, so Klein. Sehr oft blieben die jungen Menschen, die eine Vorlehre absolviert hätten, auch für die anschliessende Ausbildung im selben Betrieb. Und manchmal blieben sie zwar im gleichen Beruf, wechselten aber den Arbeitgeber. «Die Brückenangebote des IDM sind keine Weiterführung der obligatorischen Schulzeit», betont Klein. Sie gehörten zur Sekundarstufe 2, zur grossen Berufsfachschule in Thun, die ebenfalls Teil des Berufsbildungszentrums IDM sei. Das Einzigartige: «Die jungen Menschen werden von den Lehrpersonen nicht nur im klassischen Sinn unterrichtet, sondern bekommen regelmässig die Möglichkeit zu Einzelberatungen, in denen sie von den Lehrpersonen gecoacht werden. Diese begleiten sie zu mehr Eigenverantwortung und in vielen Fällen zu mehr Selbstvertrauen.» So seien die Lehrpersonen nicht selten auch Vermittelnde und Mediatoren zwischen Betrieb und Schule. Wolf: «Wir sind mit den Lernenden und den Betrieben in ständigem Austausch. Unsere Betreuung ist sehr eng. Im Coaching besprechen die jungen Menschen zum Beispiel, dass der Umgangston in der Praxis rauer ist als in der Schule.» Es gehe darum, zu reflektieren. «Diese Coachingmöglichkeiten sind sehr wertvoll.» Natürlich würden auch klassische Fächer wie Deutsch, Mathematik, Englisch und Sport unterrichtet. Die Jugendlichen hätten zudem die Möglichkeit, beispielsweise das Fach «Skills» zu besuchen, das Selbst- und Sozialkompetenz beinhalte. Oder das Fach «Wald», in dem sie sich vor allem draussen aufhielten. «Allein dies macht sie reifer, die Unterschiede zu anderen Gleichaltrigen sind frappant.»
Über die Region hinaus strahlen
Vor der Gründung des Berufsbildungszentrums IDM im Jahr 2014 gab es zwei Schulen: Die Gewerblich-Industrielle Berufsfachschule Thun (GIBT) und die Schlossbergschule in Spiez. Im Zuge der Umsetzung des Ausgaben- und Strukturüberprüfungsprogramms des Kantons Bern von 2013 wurden die Brückenangebote im Berner Oberland zusammengefasst und in einer Abteilung der damaligen GIBT fusioniert. Seitdem heisst die Gesamtschule Berufsbildungszentrum IDM; die Schlossbergschule Spiez sowie weitere Standorte in Interlaken und Zweisimmen gehören zur Berufsfachschule, die ihren Hauptsitz in Thun hat. «Seit dieser Zeit gehören alle Brückenangebote, als eigenständige Abteilung, zum IDM», so Klein. In Thun befinden sich die Abteilungen «Dienstleistung und Bau», «Technik und Logistik», die «Berufsmaturität» sowie die Gesamtleitung und Verwaltung. Aus-senstandorte der Abteilung Brückenangebote mit Hauptsitz in Spiez sind Interlaken und Zweisimmen. «Wir sind froh, dass die Abteilung Brückenangebote Teil der Berufsfachschule ist. Dies bringt viele Vorteile und gibt eine gewisse Stabilität.» Wolf: «Zudem profitieren wir von der Infrastruktur.» Als grossen Vorteil empfinden beide den Austausch, der mit der Beruflichen Grundbildung in Thun stattfindet. «Davon profitieren alle gegenseitig.»
Obwohl es sie seit über zehn Jahren gibt, ist die Vorlehre bedauerlicherweise wenig bekannt. Viele Volksschülerinnen und -schüler hören erst in der Berufsberatung davon. Warum informieren die Lehrpersonen der Grundschule nicht darüber? Klein: «Ja, das bedaure ich auch!» Er geht davon aus, dass viele Lehrpersonen der Oberstufen in Bezug auf die Vorlehre nicht genug Bescheid wüssten. Dabei bringe sie den jungen Menschen, und in der Folge auch den Betrieben, so viel, dass es unter dem Strich günstiger werde, als wenn Jugendliche zu früh in eine Lehre einstiegen und/oder diese wieder abbrächen. «Nun wollen wir das Angebot sichtbar machen.» Das Berufsbildungszentrum IDM biete ein vielseitiges Angebot, vom berufsvorbereitenden Schuljahr über die Berufsvorbereitung Praxis und Allgemeinbildung bis zur Berufsvorbereitung Praxis und Integration. «Diese Angebote sind Leuchttürme, die weit in die Region hinausstrahlen.»
Sinnhaftigkeit und Langzeitwirkung
Es gebe ehemalige Vorlehre-Absolvierende, die später einen EFZ- (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis) oder EBA (Eidgenössisches Berufsattest)-Abschluss gemacht hätten. Und einige wenige, welche die Berufsmatura schafften, und wieder andere, die sich danach für das Gymnasium entschieden. Andere seien Geflüchtete aus der ganzen Welt. Klein vermutet, dass die Flüchtlingsströme in naher Zukunft nicht abrissen. Deshalb suche das IDM stets neue Lehrpersonen. Sechs Klassen wurden kürzlich zusätzlich zum Bestehenden eröffnet, aus-serdem viele Lehrpersonen eingestellt. «Manche Jugendliche überbrücken bei uns, weil die gewünschte Lehrstelle bereits besetzt ist.» Wolf: «Hier können wir sie abholen, wo sie gerade sind.» Die Klassen seien kleiner als die der Beruflichen Grundbildung und ermöglichten, individuell auf den Menschen einzugehen. Dies gelte auch für jene mit posttraumatischen Störungen, die Krieg und Folter erlebt hätten und erst die Tagesstrukturen neu lernen müssten. «Es ist unglaublich, wie das Miteinander die Menschen stärkt und die Verschiedenartigkeit bereichert.» Klein: «Die Sinnhaftigkeit unserer Schule ist eins zu eins spürbar. Wir alle sind gemeinsam ein grossartiges Team.»
Klein betont die Langzeitwirkung einer Vorlehre. Deshalb möchte er sie bekannter machen. «Die Lehrpersonen im ganzen Kanton müssen wissen, was die Vorlehre überhaupt ist.» Sie stellten einen frappanten Unterschied zu anderen Lernenden bezüglich überfachlicher Skills und «Fitsein für den Beruf» fest. Klein betont das einzigartige Duale, die Mischung von Betrieb und Schule der «Minilehre». Ben Hüter, der Direktor des BBZ IDM, empfängt immer wieder Delegationen aus der ganzen Welt, die sich für unser einzigartiges System interessieren. Dabei werden oft auch die Vorlehre und die anderen Brückenangebote thematisiert. Klein: «Es gibt Berufsschullehrpersonen in der ganzen Welt, die sich für das Modell der Vorlehre öffnen, die es zuvor nicht kannten, weil es dort keine vergleichbaren Angebote oder dann gleich die Uni gibt.» So etwas wie eine Berufsmatura oder eine drei- oder vierjährige Lehre wie hierzulande gebe es nicht. «Gerade auch weil die Berufsbildung in der Schweiz einen so hohen Stellenwert geniesst, sind die jungen Schweizerinnen und Schweizer stets erfolgreich an den World-Skills.» Dass Praxis und Schule kombiniert würden, sei ein Erfolgsmodell. «Die Vorlehre gehört klar dazu.» Ist die Ausgestaltung der Brückenangebote des BBZ IDM einzigartig, Herr Klein? «Andere Kantone haben auch ein berufsvorbereitendes Schuljahr und die Vorlehre, doch das breite Fächer- und Betreuungsangebot und die individuellen Programme für die Lernenden sind in dieser Form einzigartig.» Überall fehlten Pflegefachpersonen. «Wir tun etwas dafür, dass die jungen Menschen, die sich für den Beruf interessieren, reifer werden und nicht sofort wieder aus Ausbildung oder Beruf aussteigen. Dies bringt der ganzen Gesellschaft einen Nutzen.»
Das BBZ IDM sucht Bildungsmacherinnen und -macher und bietet «ein sinnstiftendes Arbeitsumfeld zugunsten Jugendlicher und junger Erwachsener». Es verfüge über moderne Führungsgrundsätze, basierend auf dem Führungsleitbild, in einem dynamischen und engagierten Team. «Wir pflegen die Kultur des gegenseitigen Respekts, der Wertschätzung und des Dialogs», sagt Michael Klein. «Wir tun das, was wir tun, weil wir es gern tun.» Die gesuchten Lehrpersonen unterrichteten die «Berufsvorbereitung Praxis und Integration»-Klassen in den Fächern Sprache/Kommunikation (Deutsch als Zweitsprache), Beruf und Gesellschaft (Berufswelt und Integration), Mathematik. Unterrichtet wird im Team, inklusive Coaching und Betreuung der Lernenden.
Stimmen aus der Schulpraxis
Wir fragten Jugendliche, die zurzeit die Vorlehre in der IDM in Spiez absolvieren, nach ihren Motiven.
Mariana da Silva Soares: «Ich kann mich besser auf die Lehre vorbereiten und sehe, ob ich in diesem Beruf die Ausbildung machen will.» Jeriel Bauer: «Die Vorlehre ist auch für jene gut, die noch nicht sicher wissen, was sie lernen wollen.» Valentina Lakova: «Ich habe Freude am Kennenlernen neuer Menschen. Und die Vorlehre gibt Selbstbewusstsein.» Nehle Reinhard: «Ich habe gelernt, mit unseren Bewohnerinnen und Bewohnern in unserer Institution, wo ich die Vorlehre mache, mehr zu kommunizieren.» Al Ragheb Nisreen: «Dass man schon den Beruf kennenlernt.» Noëlle Cabrera Trachsel: «Ich bekomme einen Einblick in den Beruf.» O.N.: «Die Vorlehre ist gut, um auf die Anschlusslösungen oder die Lehre vorzubereiten.» Leticia Pedro Gonçalves: «Dass ich mehr Zeit habe, um etwas Festes zu finden, und es hilft mir, einen Einblick in den Beruf zu erhalten.» Leticia Sousa Rocha: «Die Vorlehre bringt mir sehr viel, es macht Spass, morgens hinzugehen und Neues zu lernen.» Melina Lu-ginbühl: «Die Vorlehre bringt mir schon sehr viel Wissen und bereitet mich auf die Lehre vor. Eine Vorlehre würde ich allen empfehlen, die noch nicht für eine Lehre bereit sind.» Sophie Lo: «Ich kenne so viel mehr Deutschwörter, die ich im Umgang mit Patientinnen üben kann. Ich habe auch meine Medizinkenntnisse über Podologie verbessert.» Shaesta Mirzaie: «Die Vorlehre ist der Schlüssel zur fundierten Vorbereitung auf komplexe Herausforderungen, und trägt so.» Cheryl Baumann: «Ich bin besser auf die Lehre vorbereitet und kenne mich im zukünftigen Beruf vertiefter aus.» Joris van Rhee: «Die Vorlehre zeigt mir viel. Ich weiss jetzt schon, in welche Richtung ich gehen möchte, was mir gefällt und was nicht.» Azima Alouche: «Ich finde gut, dass man mehr über diesen Beruf lernen kann.» Georgiana Kyvernitakie: «Die Vorlehre hat positive wie negative Aspekte: Die negative Seite ist, dass man länger braucht, um in die Lehre einzusteigen, nicht viel Geld verdient und weniger verantwortungsvolle Tätigkeiten ausüben kann. Das Positive ist, dass man sich besser vorbereitet fühlt für die Lehre. Wir haben ein Jahr Zeit, alles zu sehen, bevor es richtig anfängt.» Elin Isler: «Die Vorlehre ist eine gute Vorbereitung für die Lehre. Man hat mehr Zeit.» Melvin Michel: «Die Vorlehre bringt mir mehr Zeit, herauszufinden, welchen Beruf ich lernen will.» Natalia Gerasimova: «Die Vorlehre ist eine gute Vorbereitung auf die weitere Berufsbildung. Sie bietet die Möglichkeit, zu erkennen, ob die richtige Berufswahl getroffen wurde. In meinem Fall hilft es auch sehr beim Deutschlernen und gibt mir mehr Selbstvertrauen.» Masho Haile: «Die Vorlehre ist gut, weil ich mich für die Lehre vorbereiten kann.» Dmytro Karavaev: «Durch die Vorlehre erhalte ich bessere Deutschkenntnisse und ich lerne kochen. Die Vorlehre wird mich widerstandsfähiger machen. Dies wird mir helfen, in Zukunft besser zu arbeiten.»