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Öffentliche Räume als Spiegel der Gesellschaft

Kommentar • Literatur dient vielen Menschen als Ablenkung vom Alltag. Sie kann uns aber auch viel über ebendiesen lehren.

| Thomas Abplanalp | Gesellschaft

Wir leben in einer verrückten Zeit.
Da ist auf der einen Seite der Kapitalismus in seiner jetzigen Form. Dieser erzieht uns nach und nach zu Egoisten. Wer beispielsweise clever genug ist und den entsprechenden Zugang hat, kann in verschiedenen Bereichen von flexiblen oder frech niedrigen Preisen profitieren. Dass andere die Kosten tragen, scheint häufig egal zu sein. Und durch Onlineshopping geht das Gespür dafür wohl endgültig verloren, wie viel Arbeit hinter Produkten steckt. In Geschäften begegnet einem wenigstens noch Personal, das die Ware bereitstellt. Die Paketzusteller liefern ihre Fracht jedoch häufig dann, wenn die Besteller selbst ausser Haus sind. Auch beim Onlineshopping geht es also darum, vermeintlich viel für vermeintlich wenig zu bekommen, ungeachtet der Konsequenzen für andere. Ganz allgemein zieht das Konsumverhalten vieler Menschen des globalen Nordens langfristige Konsequenzen nach sich, die das Leben von Millionen von Menschen vor allem im globalen Süden gefährden.
Und da ist auf der anderen Seite die Politik. In immer mehr Ländern, auch gerade Europas, gewinnen Parteien oder Gruppierungen Macht, deren oberstes Ziel wohl eher nicht in einem friedlichen, demokratischen und vielfältigen Miteinander liegt.

Diese Ausgangslage macht Angst.

Und sie erklärt vielleicht, warum öffentliche Räume als Orte des Miteinanders von vielen nicht mehr wirklich geschätzt werden. Dafür hilft ein Blick in die Literatur­geschichte. Politische Zufriedenheit in der Bevölkerung suchte man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gebiet des heutigen Deutschland vergeblich. Die Fürsten hielten ihre Versprechen nicht, mit denen sie ihre Bevölkerung in den Krieg gegen Napoleon gelockt hatten. Das betrifft vor allem das Versprechen einer Verfassung, in der bürgerliche Freiheiten und eine Beteiligung der Bürger an der Regierung festgehalten werden sollten. Um genau diese Forderungen seitens Bevölkerung zu unterbinden, wurde eine strenge Zensur ein­geführt.
Aus dieser politischen Unzufriedenheit resultierten zwei literarische Strömungen. Einige Autoren hielten sich aus der Politik heraus und setzten den Fokus ihrer Texte auf das eigene und einfache Leben in den eigenen vier Wänden. Man spricht hier vom Biedermeier.
Andere Autoren konzentrierten sich auf politische Inhalte. Ob in Zeitungen, Flugblättern oder literarischen Werken, sie äusserten ihre politischen Forderungen mal direkt und vehement, mal zwischen den Zeilen und subtil. Ihnen war es ein Anliegen, die Situation nicht einfach so hinzunehmen. Sie wollten politische Veränderungen, vor allem ein endlich geeintes und demokratisches Deutschland.

Man spricht hier vom Vormärz.

Dass die Situation heute gewisse Parallelen aufweist, zeigt sich beispielhaft im vermeintlich kreativen Content vieler Menschen auf Social Media. Die einen scheinen den Fokus auf die Inszenierung ihres Körpers, Haustiers und Essens zu setzen. Andere brauchen ihre Reichweite auf Social Media, um ihre politischen Botschaften zu verbreiten und allenfalls sogar Demonstrationen oder Ähnliches zu organisieren. Rückzug ins Private auf der einen, politischer Aktionismus auf der anderen Seite.
Überspitzt formuliert bedeutet das für physische öffentliche Räume: Die einen nutzen sie für ihr privates individuelles Glück, beispielsweise um von A nach B zu gelangen (siehe Pendlerverkehr), und andere, um meinungsstark für eine politische Position einzutreten (siehe Demonstrationen).

Dabei bieten öffentliche Räume Menschen die ideale Möglichkeit, nicht das Extreme, sondern das Mittelmass zu zelebrieren. Dieses Mittelmass entsteht nämlich dadurch, dass öffentliche Räume die ganze Vielfalt beziehungsweise Breite einer Gesellschaft zeigen beziehungsweise zeigen können. Unabhängig vom beruflichen, so­zialen, kulturellen und sonstigen Hintergrund warten Menschen am Bahnsteig auf denselben Zug. Und einen Film im Kino mit vielen anderen bekannten und fremden Menschen zu geniessen, ist ein qualitativ ganz anderes Erlebnis, als zuhause alleine vor dem Laptop zu sitzen und eine Serie zu streamen.

Berechtigterweise lässt sich hier einwenden, dass sich leider nicht alle Menschen im öffentlichen Raum zu benehmen wissen und beispielsweise im Kino laut sprechen, am Smartphone herumdrücken und ihr Essen in einer Lautstärke essen, die die Lautsprecher übertönt. Klar, das nervt.
Doch in genau solchen Momenten können öffentliche Räume die Orte sein, an denen ein gesellschaftliches Korrektiv einsetzt. Wer im Kino eine lärmende Person höflich darum bittet, ruhiger zu sein, kann sich der Dankbarkeit der anderen Besucher sicher sein. Und die lärmende Person wird sich in den meisten Fällen etwas zurückhalten. Dasselbe gilt auch im öffentlichen Verkehr oder auf öffentlichen Plätzen. So fördern öffentliche Plätze letzten Endes einerseits die Sensibilität. Der laut schmatzende Kinobesucher ist sich vielleicht erst jetzt dessen bewusst geworden, dass nicht alle Leute seinen Lärm zu schätzen wissen. Andererseits fördern sie die Resilienz. Wer freitagabends in einem vollen Kinosaal sitzt, muss damit rechnen, das ein oder andere Geräusch zu hören.
Aus all diesen Überlegungen folgt, dass gerade physische öffentliche Plätze eine gute Sache für das Individuum und die Gesellschaft sind. Doch dafür müssen diese auch bewusst gestaltet und genutzt werden.


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