«Frau und Mann: Erst in der Doppelung spiegeln sie Gott»
Worb/Rüfenacht • Stefan Wälchli ist Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Worb. Selbst bezeichnet er sich in Bezug auf das Thema Gendern als «alten, weissen Mann». Gerade aber in Bezug auf das Bild der Kirche in Bezug auf Frauen und diverse Personen hat der Theologe und Autor einiges zu sagen…
«In den biblischen Texten kommen viele Frauen vor», sagt Stefan Wälchli. Diese Texte nennt er Menschheits-Erzählungen. Denn Geschichte im engeren Sinn ist es nicht. Wälchli wählt seine Worte mit Bedacht. Es ist auffallend, wie differenziert und vorsichtig er sich ausdrückt. Kein Wort kommt vorschnell über seine Lippen. Sein fachliches Wissen ist gross. Und wohl auch das menschliche. Zweifelsohne kommen ihm hierbei seine Lebens- und Berufserfahrung zugute.
Stefan Wälchli ist überzeugt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind und dies seit jeher waren. Auch in der Bibel. «Schon in der bekannten Genesis-Erzählung, an der Stelle, wo es um die Erschaffung der Welt geht, heisst es, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen: als Mann und als Frau.» Bereits in diesem Satz werde klar, dass sowohl die Frau als auch der Mann Gottes Ebenbild entsprächen, also den Begriff Mensch nur gemeinsam vervollständigten. «Frau und Mann gehörten bereits zu Beginn der Bibelschreibung zusammen. Erst in der Doppelung sind sie die Spiegelung von Gott! Das ist etwas ganz Wichtiges.»
Jüngerinnen und Jünger
In der Bibel, vor allem im Alten Testament schon, gebe es viele Frauenfiguren, deren Handlungen die Geschichte positiv beeinflusst hätten. «So, dass eine Geschichte gut ausging. Und ab und an gab es jene, welche die Ereignisse so beeinflussten, dass Unheil über die Welt kam. Wie dies auch bei den Männerfiguren der Bibel der Fall ist.» Wälchli erwähnt das «Buch der Richter» im Alten Testament: «Es erzählt von vielen Frauen, welche die Geschichte retteten.» Dann, im Neuen Testament, sei es natürlich Maria, die als Mutter von Jesus die wichtigste Frauenfigur sei. «Aber neben ihr gibt es eine Vielzahl anderer Frauen, auch Jüngerinnen, die eine wichtige Rolle spielten.» Jüngerinnen? «Ja, nach dem Studium der Bibel bin ich überzeugt, dass es viele Jüngerinnen gab, die Jesus folgten.» Erst die Interpretation der griechisch-römischen Überlieferung habe aus der Vielzahl der Jüngerinnen und Jünger nur zwölf Männer gemacht. Zudem: «In den Briefen von Paulus gibt es Frauen, die in tragenden kirchlichen Ämtern tätig waren.»
Die Rechtsstellung der Frau
Der 58 Jahre alte Pfarrer weist darauf hin, dass in der altorientalisch-jüdischen Welt – «die zwar auch eine patriarchalische war, aber weit weniger ausgeprägt» –
die Frauen weit mehr Raum und Rechte hatten als in der griechisch-römischen. Als er studiert habe, habe eine Dozentin darauf hingewiesen, dass es im «Buch der Sprichwörter» (das zur Bibel gehört) in Kapitel 31 eine Stelle gebe, die darauf hinweise, dass sich die Frau um Haus und Hof zu kümmern habe. «Es steht aber auch, dass die Frau wirtschaftlich handelsfähig sein solle, also eigenständig Land kaufen und verkaufen könne und anderes. Dass sie betreffend Entscheidungen frei sein solle.» Wälchli merkt an: «Dem diametral entgegen stand unser Schweizer Eherecht, das der Frau bis ins Jahr 1987 dieses Recht untersagte …; so lange, bis das neue Eherecht in Kraft trat.» Wälchli nennt zur Veranschaulichung das Beispiel seiner Mutter: «Sie war eine ausgebildete Lehrerin mit einer Festanstellung. Bis zum Tag, als sie heiratete. Das war 1959. Mit der Heirat verlor sie die Festanstellung.» Der Grund: «Man hatte die Vorstellung, dass sie nicht für Haushalt und Kinder sorgen könne und zusätzlich noch einen Vollzeitberuf ausüben. Sie wurde höchstens noch als Stellvertreterin engagiert.» Ein anderes Beispiel: «Als meine Mutter heiratete, bekam sie von ihrem Vater einen Erbvorschuss, um ein Haus kaufen zu können. Den Erb- und Kaufvertrag musste aber ihr Mann unterschreiben –
nicht die eigene Tochter.» Die Schweiz sei also um ein Vielfaches rückständiger gewesen als die Bibel zu Urzeiten. «Die Rechtsstellung der Frau in den biblischen Texten war besser als bei uns bis in die jüngste Vergangenheit.»
Er betone dies, «weil wir auch heute in einer Welt leben, die vor allem durch den Hellenismus und die römische Rechtsordnung geprägt ist. Denn die griechisch-römische Kultur prägte Westeuropa.» Warum in fast jeder Kultur das Patriarchat dominiert, führt Wälchli auf biologische Gründe zurück und die daraus folgende Beschränkung der Frau durch Schwangerschaft und Geburt. Im Altertum wurden Kinder viel länger gestillt als heute, Babynahrung und Milchpumpen gab es nicht. Das hat die Frauen an die Kinder gebunden und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Im alten Rom wurde das ins Extreme getrieben: «Der Pater familias als Dominus (wie Gott, der Herr), also der Familienvater, hatte in der römischen Kultur die vollständige Verfügungsgewalt über Söhne, Frauen und Kinder. Er hatte innerhalb dieser sozialen Einheit die zentrale Position inne: Seine Frau, seine Söhne mit ihren Gattinnen und deren Kindern und allenfalls Enkel sowie unverheiratete Töchter waren rechtlich und ökonomisch von ihm abhängig, selbst wenn sie räumlich getrennt lebten.» Durch die Geschichte sei das junge Christentum, das orientalisch-jüdisch geprägt gewesen sei, schliesslich in die griechisch-römische Welt gewandert. Frauen wurden von den kirchlichen Ämtern ausgeschlossen. «Und dies, obwohl in den frühen Schriften von Paulus steht, dass Frauen in kirchliche Ämter gewählt werden; dass es Diakoninnen gab.» Die jüdisch-orientalische Bibelauslegung sei die weit freiere gewesen. «Bis in die jüngste Vergangenheit galt aber die griechisch-römische Sicht auf die Frau. Und diese hat deren niedere Stellung in der Kirche geprägt.»
Seit den 1960er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts sei die evangelisch-reformierte Kirche bereit, Frauen, also Pfarrerinnen auszubilden: mit jeglichen Rechten und Pflichten. «Die Kirche begann damit also bereits früher als die Schulen …» Bis in die 1950er-Jahre sei es der Pfarrer gewesen, der gepredigt und das Offizielle erledigt habe. «Eine Pfarrfrau hatte andere Funktionen.» Erst 1970/80 habe ein Kulturwandel stattgefunden. Heute seien Frauen in den meisten Schweizer Kirchgemeinden grundsätzlich gleichberechtigt. Auch Stefan Wälchlis Frau ist Pfarrerin. «Wir haben uns, als die Kinder klein waren, die Erwerbstätigkeit zu je 50 Prozent geteilt.» Eine Weile habe sie mehr verdient als er, «weil ihr die Familienjahre angerechnet wurden». Emanzipation in der Landeskirche sei also bereits in den 1990er-Jahren unproblematisch gewesen.
Gegen gelebte Pädophilie
Die reformierte Landeskirche setze sich stark mit Fragen in Bezug auf diverse und queere Menschen auseinander. «Auch hier greift der Schöpfungsgedanke: ‹Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes.›» Dies sei ein starker Schritt, den die Landeskirche diesbezüglich getan habe. «Es war allerdings nicht immer einfach.» Denn gerade bei der älteren Generation seien die anerzogenen Bilder zum Teil noch tief verankert. Auch die Freikirchen täten, trotz des grossen Zulaufs, den Schritt zur Inklusion nicht. «In Bezug auf Toleranz, Inklusion und Offenheit ist die reformierte Landeskirche weit voraus.»
Klar, es gebe Stellen in der Bibel, die von manchen gegen Homosexualität gelesen würden. Eine solche gebe es zum Beispiel bei Paulus. «Dabei geht es dort nicht um die partnerschaftliche, gleichberechtigte homosexuelle Beziehung, sondern um die Beziehungen von älteren, wohlhabenden Männern mit Kindern und jugendlichen Männern, die sie sich kauften.» Somit gehe es nicht um Homosexualität, sondern um Pädophilie. «Und das Ausleben derselben ist auch in unserem Verständnis eine strafrechtliche Tat.» Gerade deshalb seien die Kirchen gefordert, sich mit diesen Bibeltexten auseinanderzusetzen. «Man muss sie im Kontext der Zeit lesen und begreifen, in der sie entstanden, und bereit sein, sich mit den neuen wissenschaftlichen Beobachtungen auseinanderzusetzen. Und dies tut die reformierte Landeskirche.»
So habe ein jüdischer Gelehrter öffentlich gesagt: «Im Christentum gibt es nur eine unbefleckte Empfängnis, im Judentum jede Nacht Tausende.» Dies zeige deutlich, dass die Sexualität in der alten Definition der Bibel kein anstössiges Thema gewesen sei. «Alttestamentlich gehört sie zum Menschen und wird nicht negativ diskutiert.»
Sprache beeinflusst die Wirklichkeit
«Liebe Gemeinde»: Damit spreche er in der Predigt die Menschen an, sagt Stefan Wälchli. «Diese Anrede inkludiert alle.» Ansonsten gendere er, wo es nötig sei. «Denn die Sprache bildet eine gesellschaftliche Wirklichkeit ab. Umgekehrt kann Sprache Wirklichkeit beeinflussen.» Deshalb sei es wichtig, «dass man sie sorgfältig und nicht in einem exklusiven Sinn braucht». Es stelle sich die Frage: «Wie reden wir von Gott? In unserer Sprache ist Gott männlich definiert. Gleichzeitig ist er DER EINE. Doch Gott ist alles.» Es gebe Bibelstellen, wo Gott klar weibliche Aspekte aufweise und auch so geschildert werde. «Es ist die Herausforderung für den Monotheismus: Eine und einen Gott zu haben, die/der alles in einem ist und alle und alles abbildet.» So sei zum Beispiel das Wort «Erbarmen» im Hebräischen weiblich. «Wenn Gott sich erbarmt, regt sich sein/ihr Mutterleib. Gott hat mit seinem/ihrem Geschöpf Erbarmen. Gott ist alles.» Schwierig sei es, dies in der Predigt so abzubilden, dass es auch von Menschen verstanden werde, die gewisse (auch hier erwähnte) Dinge nicht wüssten. «Ohne sie vor den Kopf zu stossen.» Auch solle die Sprache nicht vergewaltigt werden. Genauso wenig sollten Bilder zementiert werden, die nicht zuträfen: wie zum Beispiel eben, dass die Frau weniger Rechte habe als ein Mann, usw. «Vielleicht sollten wir nicht zu stur auf die Sprache schauen, sondern spielerisch.» Wie Schriftstellerinnen und Schriftsteller es in der Literatur täten, könnten auch Pfarrpersonen mit Sprachbildern spielen. «Auch die Predigt bietet eine Möglichkeit, Dinge zu erklären.» Schliesslich seien es die Sinnfragen, mit denen es sich auseinanderzusetzen gelte, die konstruktiv erschlossen werden müssten. Auch urmenschliche Lebensfragen in Bezug auf Macht, Verantwortungen, Beziehungen. «Auch das ist Aufgabe des Gottesdienstes.»
In einer Zeit, in der so viele Menschen verunsichert seien, kippten viele ins Extreme und Absolute. «Menschen sehnen sich nach Sicherheit und Orientierung.» Gerade deshalb sei es auch Auftrag der Kirche, sich sozial zu engagieren, die christlichen Werte zu leben. «Auch dies ist eine biblische Tradition.» Dahinter stehe wieder der Schöpfungsgedanke. «Wenn ich für mich in Anspruch nehme, ein Geschöpf Gottes zu sein, dann helfe ich, wenn ich jemanden treffe, dem es schlecht geht. Das kann mich nicht kaltlassen. Schliesslich ist auch diese Person ein Geschöpf Gottes.» Aus diesem Gedanken heraus wachse das soziale Engagement. Und dies unterscheide die Kirche von einer nicht
kirchlichen gemeinnützigen Organisation. «Wenn ich helfe, muss ich nicht per se für diesen Menschen beten. Aber meine Hilfe soll in einem Zusammenhang mit Gott stehen.» Denn es sei ein Markenzeichen der Kirche, dass diese beiden Aspekte zusammengehörten. «Und ja, Gott ist gross. So gross, dass wir Menschenkinder ihn nie ganz erfassen können. Aber gerade darum ist es eben Gott.»