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«Frauen dürfen nicht nur mitgemeint sein!»

Thun • Sabina Ingold ist eine von fünf Pfarrerinnen der Kirchgemeinde Thun (insgesamt sind es sechs Pfarrpersonen). Seit zwölf Jahren ist die 39-Jährige im Amt.

| Sonja Laurèle Bauer | Gesellschaft
Frau
Sabina Ingold. Bild: zvg

In der Kirchgemeinde der Stadt Thun gibt es fünf Frauen und nur einen Mann, die jeweils an Sonntagvormittagen die Predigtbesucherinnen und -besucher begrüssen und die an Taufen und Beerdigungen, an Hochzeiten und als Seelsorgende im Einsatz sind. «Zurzeit werden gar mehr Frauen als Männer für den Pfarrberuf ausgebildet», sagt Sabina Ingold, eine der fünf Pfarrerinnen in Thun.

Endlich ein richtiger Pfarrer

Die Redaktion dieser Zeitung besuchte einige Gottesdienste im Rahmen dieser Recherche. Von Unterseen bis Bolligen. Und immer traf sie auf Pfarrerinnen. Was sie erstaunte: Alle predigten in gendergerechter Sprache. Frau Ingold, ist dies heute «normal»? «Soweit ich weiss, ja, eigentlich schon. Ab und an gibt es noch Pfarrpersonen, die dies nicht so halten. Aber die allermeisten begreifen Gott heute als, im Wortsinn, allumfassend.» Die Predigtbesucherinnen und -besucher begrüssten es sehr, wenn sie sich eingeschlossen fühlten, so Ingold.

Klebrige Bilder

Trotzdem: Es gebe eben auch die «anderen Fälle». Obwohl sie sich als Pfarrerin sehr angenommen fühle, habe sie auch schon vernommen, wie, als ein Pfarrer auf der Kanzel gestanden habe, gesagt worden sei: «Endlich wieder mal ein richtiger Pfarrer!» «Das zeigt schon, wie tief das männliche Kirchenbild noch in den Köpfen verankert ist. Manche sind überrascht, dass kein Mann auf die Kanzel steigt.» Diese Momente berührten sie schon.
Aber woher rührt dies männliche Selbstverständnis betreffend Pfarrpersonen? «In der subjektiven Wahrnehmung vieler hat ein Pfarrer eine andere Strahlkraft als eine Pfarrerin», so Ingold. So à la: «Ein richtiger Pfarrer ist ein Mann.» Dies sei leider nicht so einfach aus den Köpfen der Menschen herauszukriegen. Doch sie spüre auch Veränderung. Ein Werden. «Langsam wandelt sich das Rollenbild.» Deshalb sei ihr das Gendern besonders wichtig: «Frauen dürfen nicht nur mitgemeint sein!» Denn Gott sei sowohl Vater als auch Mutter. Sie zitiert das «Unser Vater»-Gebet: «Gott im Himmel, die/der Du Vater als auch Mutter bist …». Die Kunst liege darin, die Frauen auch in der Kirche sichtbar zu machen. «Frauen wollen als Frauen, als Menschen angesprochen sein.» Deshalb sei es ihr wichtig, auch sprachlich auszudrücken, dass alle Menschen in der Kirche willkommen seien. «So wie es bei Jesus auch die Jüngerinnen waren.» Denn davon fänden sich viele in der Bibel. «Durch die griechisch-römische Übersetzung wurden sie einfach ausradiert.»

Das Normalste der Welt

Sie empfinde ihre Gemeinde als sehr tolerant. «Transmenschen sind fest integriert. Es scheint das Normalste auf der Welt zu sein.» Klar, manchmal könne jemand, je nach Erscheinung, bei manchen eine gewisse Irritation auslösen. «Aber niemals einen Urschrei» (lacht).
Bevor die Genderdebatte die gesamtgesellschaftliche Diskussion erreicht habe, «hat sich die feministisch-theologische Bewegung jahrzehntelang für die Sichtbarkeit von Frauen in der Theologie und Kirche eingesetzt».
Natürlich schliesse die Diskussion von der Antirassismusdebatte über die Missionsgeschichte bis zum Fleischessen alles mit ein. «Es gibt noch vieles aufzuholen. Gerade auch in Bezug auf theologische Aspekte.» Sie sinniert: «Mein Kollege, Sydney Gautschi, ist fast gleich alt wie ich. Doch ich studierte vor vielen Jahren, er studiert heute. Allein was die Ausbildung betrifft: Das Bewusstsein veränderte sich in dieser Zeit stark.» Wie immer in der Gesellschaft sei dies ein guter, wichtiger Prozess. «Er zeigt, dass früher nicht alles besser war.»
Wichtig sei, dass nach kreativen Lösungen gesucht werde. So auch in der Theologie. «Wie Frauen und Männer gab es auch immer Menschen, die sich zwischen den Geschlechtern (be-)finden. Wir alle machen die Menschheit aus. Wenn nach Lösungen gesucht wird, so sollten sich darin möglichst viele Menschen wohlfühlen können.» Denn gerade auch dies sei ein christlicher Wert. «Menschen als das zu nehmen, was sie sind: als Menschen.»

Das konservative Bild der Freikirchen

Ihr sei bewusst, dass die kirchliche Innensicht eine andere sei als die ­Aussensicht. «Was für uns sonnenklar ist – die Gleichberechtigung aller Menschen –, scheint noch nicht nach aussen
gedrungen zu sein.» Die Gründe seien verschieden. Auf die Frage, ob auch die Freikirchen eine Mitverantwortung dafür trügen, sagt Sabina Ingold: «Die Freikirchen geniessen grossen Zulauf, weil sie über die Sozialen Medien sichtbarer und agiler sind, weil sie Musik und Tanz, Gemeinsamkeit und Jugend hochhalten und somit auch mehr junge Menschen erreichen. Erstaunlicherweise, obwohl sie die konservativen Rollen- und Familienbilder zelebrieren.» Viele Freikirchen agierten in patriarchalen Strukturen. «Weibliche Sexualität wird nicht ernst genommen. Diverse Menschen müssen ihre Veranlagung und somit einen grossen Teil ihres Menschseins unterdrücken.»
Dem gegenüber stünden die reformierten Landeskirchen, die beweglicher und offener seien, was leider zu wenig wahrgenommen werde, da die Landeskirchen weniger Zulauf von Jugendlichen zu verzeichnen hätten. «Darin liegt grosses Verbesserungspotenzial.»

Im Anfang war das Wort

«Schade», sinniert Sabina Ingold, «dass die Kirchen im Allgemeinen auf das Patriarchat bauten. Übrigens nicht nur die Kirchen, die gesamte Gesellschaft.» Noch heute beobachte sie, dass zum Beispiel die weibliche Sexualität aus Männersicht gedacht werde. «Um eine wirkliche Gleichberechtigung in einer Gesellschaft zu verankern, die die Unterschiede der Menschen als Wert begreift, sie aber alle gleichberechtigt behandelt, braucht es eine Sprache, die dies unterstreicht.» Ganz im Sinne von: Im Anfang war das Wort.




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