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«Ich will unbedingt Psychiaterin werden – trotzdem»

Psychiatrie | Der Fachkräftemangel in den Psychiatrien ist enorm. Darunter leiden Patienten, Ärzteschaft und Pflegende. Viele von Letzteren hören auf – ein Teufelskreis. Lara Pauchard aus Thun will trotzdem Medizin studieren und den Facharzt für Psychiatrie machen. Sie widmete ihre Maturarbeit dem Thema.

Interview
Lara Pauchard im Garten bei sich zu Hause in Thun. Bild: zvg

 Lara Pauchard, für Ihre Maturarbeit durften Sie in einer Berner Psychiatrie ein dreitägiges Praktikum absolvieren, für das Ihnen die Fachkräfte viel Zeit einräumten. Sie sagen, Sie seien dankbar dafür, gerade weil Sie wissen, wie wenig Zeit Ärztinnen und Ärzte, aber auch Pflegende haben. Was ist Ihr Fazit? 

Lara Pauchard: Ich fühlte mich beinahe schlecht, wie viel Zeit sie sich für mich nahmen. Ich sah, wie enorm viel die Teammitglieder zu tun hatten. Der Druck, unter dem sie stehen, ist immens. Doch sie tun trotzdem alles, um junge Menschen für den Beruf zu gewinnen. Dies auch, weil ein optimistischer Glaube an die Zukunft die einzige Chance ist, aus dem Teufelskreis he-raus zu kommen. Aber das allein genügt nicht. Wenn die prekäre Situation im Gesundheitswesen generell, aber speziell in der Psychiatrie verbessert werden soll, müssen konkrete Massnahmen ergriffen werden. Aufgrund meiner Gespräche und Recherchen habe ich einige mögliche Lösungsansätze für mich formuliert, die die Lage verbessern könnten. 

Die wären?

Wenn man die Möglichkeit verbessern würde, Karriere und Familie miteinander zu verbinden, könnte man mehr gut ausgebildete Frauen rekrutieren. Dies könnte man erreichen, indem man vermehrt Teilzeitpensen und flexiblere
Arbeitszeiten ermöglicht und die Kinderbetreuung vor Ort stärkt. 

Die Erhöhung der Produktivität durch Digitalisierung ist ausserdem eine wichtige Option, die im Idealfall Arbeitszeit einsparen kann, beispielsweise durch Apps für Patientinnen und Patienten, in denen sie ihr psychisches Wohlergehen erfassen können und die App dann Ratschläge gibt. Zentral wäre, das Image von Berufen in der Psychiatrie gesellschaftlich zu verbessern. Wenn man die Ausbildung attraktiv gestaltet, kann das mehr Interessenten anziehen. Doch ohne eine massgebliche und anhaltende Verbesserung von konkreten Arbeitsbedingungen werden Bemühungen, die sich rein auf die Ausbildung fokussieren, nichts bringen. Nicht nur das Lohnniveau gerade von Pflegenden ist zu diskutieren, sondern auch der Schutz der Mitarbeitenden vor Überarbeitung und Leistungsdruck. 

Können Sie uns sagen, was Sie während
Ihres Praktikums erlebten?

Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass die Fachkräfte wirklich kurz vor dem Burn-out stehen – vermehrt fallen auch Fachkräfte aus. Auf meiner Station hat die ganze Woche eine Ärztin gefehlt, aufgrund von Überarbeitung. Es darf nicht nur darum gehen, neue Leute für den Beruf zu rekrutieren, sondern auch darum, die noch bestehenden Fachkräfte zu schützen. Auch sind die Ansprüche, die wir als Gesellschaft an die Psychiatrie haben, bei Weitem nicht realistisch. Wir stützen uns mit vollem Gewicht auf die Psychiatrie und erwarten, dass sie unsere Probleme lösen soll. Viele Menschen geben ihre persönliche Verantwortung zu gern ab. Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen, selbst mit Belastung und Krisen zurechtzukommen, tragfähiger und selbstständiger zu werden, sodass Fachhilfe nur dann beansprucht wird, wenn es wirklich nötig ist.  

Man hörte ja in den vergangenen Wochen und Monaten einiges, was nicht so gut lief in den Psychiatrien. Hat es damit zu tun?

Ja, natürlich, das Zusammenleben so für alle sicher zu gestalten, ist schwierig. Wenn zu wenig Mitarbeitende sich um zu viele zu komplexe Fälle kümmern müssen, sind Medikamente oft die einfachste Option. Das hat mich schon beeindruckt, dass so viele Medikamente eingesetzt werden. In einer idealen Welt hätten wir genügend Fachpersonal für Gespräche und Psychotherapie, was den Gebrauch von Medikamenten reduzieren könnte.

 

Sie sagten, es müsse sich auch politisch
etwas ändern …?

Ja, es passiert nichts. Man will es, so wie es ist, durchstieren, bis nichts mehr geht. Es geht doch immer nur um Geld. Das macht die Menschen in diesen Berufen kaputt. Man muss endlich eingestehen, dass es in der Medizin und vor allem auch in der Psychiatrie grosse Probleme gibt, die uns alle betreffen! Es braucht Klarheit und ein ehrliches Wort. 

Sie wollen trotzdem Psychiaterin werden?

Ja, es ist ein Traum von mir. Trotz der schwierigen Umstände. Wie sollte das Problem gelöst werden, wenn nicht Leute dafür bereit sind, trotzdem diesen Weg zu wählen? Aber dann braucht es eben Veränderungen. Man muss zum Beispiel das System mit dem Numerus clausus überdenken, der Zugangs-beschränkung fürs Medizinstudium. Da wird viel wertvolle Zeit vergeudet. Einige meiner Kolleginnen wandern nach Deutschland ab, weil man dort ohne Eintrittshürde Medizin studieren kann, und wir werben dann hier deutsche Ärztinnen und Ärzte an. Es geht doch nicht allein um die fachlich-theoretische Kompetenz, sondern auch um die menschliche. Wir brauchen Ärzte! 

Sie bekamen auch einen Einblick in die geschlossene Station?

Ja, da hatte ich erstmals das Gefühl, in einer psychiatrischen Klinik zu sein. Da es sich um eine Akutstation handelte, werden dort nur schwere Fälle und sehr instabile Patientinnen und Patienten aufgenommen. Schnell sah ich, dass die Patienten gegenüber den Teammitgliedern eine grosse Mehrheit darstellten – dieses Ungleichgewicht fiel mir vermehrt auf. Leider hörte ich seitens der Fachkräfte oft den Satz: «Dafür haben wir die Kapazitäten nicht.» Schon in dieser kurzen Zeit bekam ich die knappen Ressourcen und den herrschenden Druck zu spüren. 

Was faszinierte Sie generell?

Ich fand es beeindruckend, wie die Psychologin mit einer herzlichen, doch bestimmten Art mit den Patientinnen redete, ihre Bedürfnisse wahrnahm, aber trotzdem klar blieb, was die Regeln anging. Bei einigen Gesprächen fiel mir auf, wie der Gemütszustand der Patienten sich klar verbesserte. Ich habe den Eindruck, dass die Gespräche den Patienten viel nützten, auch wenn nur wenig Zeit zur Verfügung stand und die Psychologin die Patienten manchmal unterbrechen musste, wenn diese zu ausschweifend wurden. Ich bewunderte das ganze Team: Sie rannten von einem Termin zum nächsten, nahmen zwischendurch Telefone an und blieben trotzdem bei jedem neuen Menschen, der vor ihnen sass, zu 100 Prozent präsent. 

Was ist anders als früher?

Heute ist es so, dass sich die Arbeitskräfte ihre Arbeitsgeber aussuchen – nicht nur besonders gefragte und kompetente, sondern auch ungenügend ausgebildete Fachkräfte können in solchen Situationen schnell und ohne gros-sen Aufwand an einen neuen Job kommen. Der Fachkräftemangel tritt heute in vielen Fachgebieten auf, vor allem in den medizinischen Berufen, speziell in der Psychiatrie, und er nimmt stetig zu. Ich durfte die Therapeuten bei Gesprächen begleiten; trotz des Stresses waren alle wahnsinnig nett zu mir. Weil sie wussten, dass es mir ernst ist mit meinem Berufswunsch, erklärten sie mir alles, obwohl bei manchen Ärztinnen und Ärzten die Sprachbarrieren erheblich waren. Dies ist ein weiterer Aspekt –
Fachkräftemangel ist unterteilbar in
absoluten und relativen. 

Was versteht man darunter?

Unter absolutem Fachkräftemangel
versteht man die Zahl, die aufzeigt, wie viele Stellen unbelegt sind, in welcher Institution wie viele Fachkräfte fehlen. Diese absolute Zahl greift aber deutlich zu kurz. Es gibt nämlich auch den relativen Fachkräftemangel, der die Posten betrifft, die zwar belegt sind, allerdings mit wenig geeigneten Mitarbeitenden, die erhebliche fachliche und/oder soziale Mängel aufweisen. Ich habe eine ausländische Fachkraft erlebt, die zwar fachlich sehr kompetent war, aber erst seit Kurzem in der Schweiz war und deshalb die deutsche Sprache nicht gut beherrschte. Dies machte sich in den Gesprächen bemerkbar: Es kam zu Missverständnissen, die Patientinnen und Patienten waren frustriert, da sie ihre Anliegen mehrmals wiederholen mussten. Im schlimmsten Fall könnte es so zu Fehldiagnosen oder Fehl-medikationen aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten kommen. Diese Gefahr ist erheblich.

Die Psychiatrien haben also nicht mehr die Wahl. Könnte dies ein Grund sein, dass es in vergangener Zeit zu so viel Missverständnissen kam?

Viele Institutionen müssen jede Fachkraft, die sich bewirbt, nehmen. Sie können nicht auswählen, ob eine Person zu dem Betrieb passt oder ob sie genügend gut ausgebildet ist; man ist froh um alle, die basale Kompetenzen mitbringen. Dies führt wiederum dazu, dass das ganze System gewissermassen ganz auf jenen Leuten mit viel Berufserfahrung, perfekten Sprachkenntnissen und fundierter Ausbildung basiert. Sie müssen immer an vorderster Front stehen, Dinge ausbügeln, die aufgrund oben erwähnter Schwierigkeiten nicht gut liefen. Oder sie müssen entscheiden, ob zum Beispiel eine Zwangsmedikation oder ähnliches ansteht. So liegt viel Verantwortung auf wenigen Schultern, das belastet sie sehr. Gegen aussen sieht man das nicht, aber in der Arbeitsrealität stellt dies eine grosse Gefahr dar.

Das führt zu grosser Frustration für die
«guten» Fachkräfte? 

Ja, sie müssen mitansehen, wie ihr Berufsumfeld immer mehr verkümmert. Stress, zu wenig Anerkennung und der schlechte Lohn wirken abschreckend. Die mangelnde Attraktivität für junge Menschen ist ebenfalls eine Folge des Fachkräftemangels. Aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen und des gesellschaftlichen Drucks wirkt das Fachgebiet unattraktiv, sodass junge Menschen gar nicht erst in Erwägung ziehen, einen Beruf im Bereich Pflege oder Medizin zu wählen. 

Ich bekam einiges an Frustration zu spüren: Die Pflegerinnen und Pfleger waren gestresst, da sie so viele Patientinnen und Patienten zu versorgen hatten – neben anderen Arbeiten –, was gar nicht zu schaffen war. Und die Ärztinnen und Psychologen wiederum waren genervt über die Pflegerinnen – Medikamente fehlten, ein Patient wurde nicht in seine Therapie geschickt, Berichte waren unvollständig. Die Stimmung war angespannt, die Atmosphäre gedrückt und belastet. Alle mussten mehr leisten, als sie konnten, jeder überschritt die persönlichen Grenzen. Ich bekam auch mit, wie sich ein Team wehrte, noch mehr Patienten auf der Station aufzunehmen, da es schlichtweg zu wenig Pflegende gab. Kraft-losigkeit und Verzweiflung prägten die Stimmung. Klar, dass so die Qualität der Behandlungen abnimmt, für den einzelnen Patienten zu wenig Zeit aufgewendet werden kann. Und die Patienten zu früh entlassen werden. 

Ein immenser Druck, nicht wahr?

Ja. Das Arbeitspensum eines Einzelnen hat sich deutlich erhöht, die Anforderungen stiegen. Die Frustration auf allen Seiten auch. Das Fachpersonal muss sich um die Patienten kümmern, sich mit dem Frust der unzufriedenen Patienten und Angehörigen einerseits und dem Leistungsdruck von Seiten der Vorgesetzen andererseits auseinandersetzen. Die schlechte Stimmung innerhalb des Teams belastet zusätzlich. Die fehlende oder seltene Freizeit und der Druck, immer noch mehr und besser leisten zu müssen, gibt vielen den Rest. 

Es fällt auf, dass Sie sehr viel wissen, aber zurückhaltend antworten? 

Ich will niemanden anklagen. Ich will einerseits kritisch sein dürfen und sagen, was ich sah, auf der anderen Seite bin ich sehr dankbar für diesen Einblick, der mir vertrauensvoll gewährt wurde. Und ich möchte wirklich betonen, wie sehr mich der enorme Einsatz und das Durchhaltevermögen der noch bestehenden Fachkräfte beeindruckt hat. Dieser Spagat zwischen Würdigung der Einzelnen und Kritik am System ist nicht einfach. Aber der Fachkräftemangel ist ein Fakt. Er betrifft alle Psychiatrien in der Schweiz. 

Noch einmal zu Ihrem Fazit?

Es ist genug, das Fass ist übergelaufen. Wir müssen die Fachkräfte des Gesundheitswesens, besonders aber auch die der Psychiatrie, schützen. Jeder ist betroffen, jede kann einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Lage verbessert. Wir können nicht nur warten und auf bessere Zeiten hoffen, wir als Gesellschaft müssen etwas ändern und einen Wandel herbeiführen. Der Fachkräftemangel ist ein Problem der Zukunft, das uns alle betrifft!


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