Der Wolf und die Demokratie
Gastbeitrag | Peter A. Dettling ist unabhängiger Wolfsfeldforscher, Naturfotograf und Bestsellerautor («Wolfsodyssee»). In einem Kommentar äussert er sich zur aktuellen Wolfspolitik.
Nach einer fast 20-jährigen Debatte rund um den Schutzstatus des Wolfes kam es am 27. September 2020 zu einer Volksabstimmung. Dabei lehnte das Schweizer Stimmvolk das revidierte Jagdgesetz, in dem die Regulierung von ganzen Wolfsfamilien und präventiven Abschüssen ein zentrales Anliegen war, ab. Das Volk hatte gesprochen. Fast zeitgleich mit der Verkündung des Abstimmungsresultats drängten sich einige bekannte, vorwiegend Bündner Politiker vor die Kamera und gaben sich mit grimmiger Miene kämpferisch. Sie hielten nichts vom Volksmehr und machten weiter, als ob nichts geschehen wäre. Drei Jahre später hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Bundesrat lancierte, allen realwissenschaftlich begründeten Bedenken und öffentlicher Entrüstung zum Trotz, im Winter 2023/24 eine Wolfsjagd, so wie die Schweiz es seit mehr als 100 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Mit geladener Waffe vorne dabei waren die Wildhüter des Landes, die wahllos auf Wölfe Jagd machten. Darunter waren einige, die sich in weit abgelegenen Teilen Russlands im Wolfsschiessen «weitergebildet» haben und den russischen Boden blutgetränkter gemacht haben, als er sonst schon ist.
Die Lust, einen Wolf zu töten
Mit ihrem Tun und Handeln mögen diese Leute, die für diese traurige Entwicklung im Land verantwortlich sind, vielleicht kurzfristig einen «Sieg» errungen haben. Sie und ihresgleichen können bald fünf Monate im Jahr ihrer offensichtlichen Lust, Wölfe zu töten, nachgehen. Doch zu welchem Preis? Diese Frage ist nicht zu unterschätzen und sollte auch den Befürwortern dieses Weges Grund geben, einen Moment innezuhalten.
Denn erstens hat die Glaubwürdigkeit der direkten Demokratie durch diesen eingeschlagenen Weg enorm gelitten. Stellen wir uns ein anderes Szenario vor. Eine Volksmehrheit entscheidet sich für eine 13. AHV-Rente. Drei Jahre später wird genau das Gegenteil eingeläutet und die Rente wird massiv gekürzt. Mit vielen, zum Teil haltlosen Argumenten wird der Kurswechsel als notwendig erklärt. Wären Sie, liebe Leserinnen und Leser, die die jetzige Wolfspolitik befürworten, damit zufrieden und würden es mir nichts, dir nichts akzeptieren? Ich glaube kaum. Bei der Causa Wolf scheint es aber so.
Zweitens: Wer jetzt beim Lesen dieser Zeilen sagen möchte, dass der Schutz des Wolfes vor allem von den «Städtern» den «Berglern» aufgezwungen wurde und dass den Wolfsbefürwortern das Wohl der Schafe in den Bergen egal ist, den frage ich: Wo wart ihr zu Zeiten, bevor es Wölfe gab, und wo jedes Jahr Tausende Schafe von den Alpen wegen mangelhafter Tierhaltung nicht mehr zurückkehrten und teilweise erbärmlich zugrunde gingen? Wo war eure Sorge um das Tierwohl damals? Fakt ist, viele Schafe werden heutzutage dank der Präsenz der Wölfe besser gehalten. Und dies wiederum dient anderen Wildtierarten wie den Gämsen, die sich weniger mit der Gamsblindheit anstecken, als es früher der Fall war, als kranke Schafe ungehindert in ihrem Lebensraum vordrangen. Auch der Wald atmet sprichwörtlich auf, wenn Wölfe wieder im Land leben, wie unzählige Studien immer wieder beweisen.
Und genau deshalb ist der Umgang mit dem Wolf so wichtig. Er zeigt wie kein anderes Lebewesen, wo wir als Gesellschaft stehen. Ob wir uns weiterentwickelt haben oder wieder in alte Muster verfallen sind. Das Urteil im Moment ist klar. Bund, Kantone und in Zukunft viele Jägerinnen und Jäger fügen einem der intelligentesten und sozialsten Lebewesen dieser Welt enormes Leid und brachiale Gewalt zu und schwächen mit ihrem Tun und Handeln gleichzeitig den Glauben an eine funktionierende und ernstzunehmende Demokratie.
Die Frage ist, wie lange das Volk, das sich erst vor etwas mehr als drei Jahren für den Schutz der Wölfe ausgesprochen hat, dies noch hinnehmen will. Wie sagte einst der ehemalige deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble? Demokratie braucht Bürgerbeteiligung … Auch deshalb ist Schweigen keine Alternative mehr. Es steht mehr als «nur» der Schutzstatus einer Tierart auf dem Spiel. Es geht um die Demokratie und um die Art und Weise, wie wir nicht nur mit Andersdenkenden, sondern mit unserer Umwelt und den darin lebenden Lebewesen umgehen wollen. Anders gesagt: Es geht um unsere Zukunft.
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