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Schäm dich, reiches Land!

Rückkehrzentren | Ursula Fischer engagiert sich in der «Aktionsgruppe Nothilfe» für Menschen, die sich in Rückkehrzentren befinden. Ein sachliches Wort für Ausschaffung. Sie betreute auch die Familie, die aus dem Zentrum in Enggistein ausgeschafft wurde.

Asyl
Das Bild der nach acht Jahren ausgeschafften tamilischen Familie entstand 2016, an Ashvikas Geburtstag am 10. November. Foto: zvg

Ursula Fischer ist Familienfrau, Mutter und Lehrerin im «Sunneschyn» in Steffisburg. Sie engagiert sich in der «Aktionsgruppe Nothilfe» ehrenamtlich für Menschen, die in sogenannten Rückkehrzentren leben. Und sie kannte die tamilische Familie, die im vergangenen November aus jenem in Enggi-stein ausgeschafft wurde, seit Jahren.

Gerade war sie im Rückkehrzentrum in Enggistein. Regelmässig besucht sie die Menschen, die dort leben und warten – niemand weiss, wann eine Ausschaffung ausgeführt wird. «Meistens steht die Polizei frühmorgens vor der Tür. Die Betroffenen haben dann noch Zeit, das Nötigste zusammenzupacken.» 

Die Familien freuen sich auf Besuch. «Eine Mutter hat wieder für mich gekocht.» Das tue sie gern, «die Menschen dort wollen etwas zurückgeben». Fischer engagiert sich stark. «Menschen, die als Abgewiesene jahrelang in der Langzeit-Nothilfe feststecken, leben unter menschenunwürdigen Bedingungen und in totaler Perspektivlosigkeit.» 

Das Haus in Enggistein sei sauber, die Gegend ein Idyll, so Fischer. «Aber abgelegen.» Auch dadurch würden die Menschen isoliert. Die Konsequenz: «Sie verlieren ihr Beziehungsnetz, und dies ist vom Migrationsamt so gewollt.» Fischer trifft eine Frau, die fünf Kinder hat und allein mit ihnen im Rückkehrzentrum Enggistein lebt. «Dankbarkeit und Gastfreundschaft gehören zu ihrer Kultur und sind diesen Menschen ein hohes Gebot. Und dies, obwohl wir sie abweisen.»

Ohne Vorankündigung ins Flugzeug 

Und genau darum geht es Ursula Fischer: «Es ist fragwürdig, ob es rechtens ist, Menschen ohne Vorankündigung abzuholen, in ein Flugzeug zu setzen und in eine ungewisse, den meisten Kindern völlig fremde Zukunft zu schicken.» Werden Menschen, deren Asylentscheid abgelehnt wurde, denn nicht informiert, dass sie jeden Tag die Ausschaffung erwarten müssen? «Sie werden wohl darauf hingewiesen», dass eine Familie nach jahrelangem Warten einfach abgeholt werde, das wollte jedoch niemand wahrhaben. Sie könne sich vorstellen, so Fischer, dass eine Ausschaffung wie bei der tamilischen Familie (siehe unten) auch das professionelle ORS-Team (international anerkannte Dienstleisterin und Betreuerin für geflüchtete Menschen) an ethisch-moralische Grenzen bringe.

Sie verstehe, dass nicht alle Menschen hierbleiben könnten, wer die Möglichkeit habe, solle in sein Heimatland zurückreisen. «Aber es ist doch ein Unterschied, ob Menschen zwei Monate oder, wie diese Familie, acht Jahre in der Schweiz leben. Zudem integriert sind, die Sprache sprechen, professionelle Fachkräfte sind in Berufen, die hierzulande fehlen, mit Kindern, die ihr Herkunftsland noch nie gesehen haben.» Was mit der tamilischen Familie passiert, sei eine Katastrophe. 

Auf diese lange Zeit gesehen habe sie sich in einer unmenschlichen Situation befunden, «mit der steten Hoffnung, doch hierbleiben zu dürfen». So, wie Geschwister aus derselben Familie, die bleiben durften. «Das ist nicht nachvollziehbar.» 

Psychische Folter

«Stellen Sie sich vor: Die Kinder machten sich an diesem Morgen für die Schule fertig, als die Polizisten auf den Platz fuhren …» Auch die anderen Menschen im Zentrum seien durch diese Ausschaffung traumatisiert worden. «Sie wissen nie, wann sie selbst dran sind, das ist psychische Folter.»

Während ihres Besuchs habe einer der Jungen gezeichnet. Als Ursula Fischer ihm später eine Packung Papiertaschentücher gab, «spielte er damit Eisenbahn. Diese Kinder sind gewohnt, mit wenig auszukommen.» Die Familien lebten in prekären Verhältnissen. 

«Oft werden sie wie Waren hin- und hergeschoben. Von einem Ort zum anderen. Menschen aus Eritrea zum Beispiel können nicht ausgeschafft werden. Dann bleiben sie im Zentrum hängen. Man will, dass sie freiwillig gehen. Doch dies tut niemand, wenn sie oder er im eigenen Land um sein Leben fürchten muss. Diese Situation auf Dauer auszuhalten, ist keines Menschen würdig.» 

Fassadenstreicherei 

Ursula Fischer ist seit Beginn des Bestehens des Zentrums in Enggistein regelmässig vor Ort. «Das Haus wird gut geführt, das ORS-Team tut, was in seiner Macht steht. Aber das System ist falsch. Regierungsrat Philipp Müller, Vorsteher der Sicherheitsdirektion, habe die Hausfassade streichen lassen, als die Presse zur Eröffnung über das Zentrum berichtete. Ein aussagekräftiges Bild … «Die Kinder sind unsere Zukunft, doch was hier geschieht, ist mit den internationalen Kinderrechten nicht vereinbar. Menschen und vor allem Kinder, die immer und überall wieder herausgerissen werden, werden psychisch krank. «Und dann wundern wir uns, wenn manche später auf die schiefe Bahn geraten.» 

Sich bei den Kindern entschuldigen

Eine andere Familie mit drei Kindern lebt gemeinsam in einem Zimmer. «Das Familienleben spielt sich dort ab. Der Vater geniert sich zum Beispiel, sich vor seinen heranwachsenden Töchtern umziehen zu müssen.» Ungefähr 40 Personen lebten zurzeit in Enggi-stein, darunter 14 Kinder. «Für alle gibt es eine einzige Küche.» Das unterirdische Rückkehrzentrum in Bern-Brünnen ist weniger idyllisch gelegen, es ist eine Unterkunft ausschliesslich für alleinstehende, abgewiesene Männer, ein Bunker. «In diesen Zentren müssen manche Bewohner bis zu dreimal am Tag unterschreiben, dass sie vor Ort sind. Das sind Zermürbungsstrategien, die angewendet werden.» Zudem seien die Menschen mobil limitiert, da sie kaum Geld hätten. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz sei die Angst grösser, ins eigene Land zurückkehren zu müssen. «Deshalb nehmen sie ein solches Dasein in Kauf. Rückkehrzent-ren, wie wir sie haben, zerstören Menschen.» Sie schadeten der Gesundheit, was wiederum Kosten generiere. «Die Menschen müssen mit der extremen Unsicherheit klarkommen. Von Tag zu Tag überleben.» Der einstige Präsident der eidgenössischen Mi-grationskommission Walter Leimgruber habe nicht umsonst gesagt: «Wir werden uns für den Umgang mit Kindern im Asylbereich entschuldigen.» (Bund vom 19. September 2023)

Grundlegendes Umdenken

Viele von Ausschaffung betroffene Menschen würden krank und infolgedessen psychiatrisch betreut. Eine Behandlung koste Geld. «Das Geld wäre besser investiert, wenn wir die Menschen ohne Rückkehrperspektive vermehrt inte-grieren und am Erwerbsleben teilhaben liessen.» Die Erfahrung zeige ihr: «Die Familien möchten selbst für ihr Einkommen sorgen. Almosen bieten keine Perspektive. Für Probleme, die hier in unserem wohlhabenden Land kreiert werden, sollten wir auch nach Lösungen suchen.» 

Es sei unverantwortlich: Jungen Menschen, die hier die Schule abgeschlossen hätten, eine Ausbildung vorzuenthalten. «Sie fühlen sich unnütz, geraten vielleicht gerade deswegen in Dinge hinein, die niemand will. Das ist doch logisch.» Fachpersonen seien sich einig: «Mit Restriktion kommen wir nicht weiter. Es braucht einen anderen Ansatz!» Zudem: «Es wollen gar nicht alle zu uns in die Schweiz kommen, wie jene, die Angst schüren, gern sagen. Aber für Geflüchtete, die da bleiben, müssen wir eine Möglichkeit des solidarischen Zusammenlebens finden. Ausgewiesene Fachkräfte und integrierte Familien zurückzuschicken, macht absolut keinen Sinn. Höchstens für die Statistik.»

www.ag-nothilfe.ch

Das kostet eine Ausschaffung


Integrierte, gut ausgebildete Menschen wie der Vater der ausgeschafften tamilischen Familie, die hierzulande in Berufen eingesetzt werden könnten, in denen Fachkräftemangel herrscht, deren Kinder unsere Sprache sprechen und die in der Schweiz aufwuchsen, verursachten der Schweiz, dürften sie hier arbeiten, keine Kosten mehr – im Gegenteil. Die Redaktion dieser Zeitung informierte sich beim Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern, was eine zwangsweise Rückführung kostet. Elianne Egli, Fachspezialistin Kommunikation, gibt Auskunft: «Diese Kosten sind unterschiedlich und hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab. Beispielsweise hängen sie damit zusammen, ob und wie weit die Person medizinisch betreut werden muss und mit welcher Vollzugsstufe sie rückgeführt wird.» Eine allgemeine Aussage dazu, welche Kosten eine Rückführung verursache, könne somit nicht gemacht werden. «Ausserdem werden die Kosten je nach vorgängigem Aufenthaltsstatus der Personen teilweise vom Bund und teilweise vom Kanton getragen.» Generell beinhalte eine zwangsweise Rückführung unter anderem folgende Kosten: 

Flugkosten: Durchschnittliche Flugkosten Linienflug im Jahr 2022: 600 bis 700 Franken pro Person. Durchschnittliche Flugkosten Sonderflug im Jahr 2022: Rund 13 000 Franken pro Person (Quelle: Staatssekretariat für Migration, SEM).

 Vergütungen SEM für polizeiliche Begleitung und Transport: ausserkantonale Transportkosten zum Flughafen pauschal 200 Franken pro Person. Innerkantonale Transportkosten zum Flughafen pauschal 50 Franken pro Person. Begleitung durch die Kantonspolizei: Tagespauschale 300 Franken pro Begleiterin oder Begleiter und 400 Franken pro Equipenleiterin oder -leiter (je nach Vollzugsstufe und Anzahl Personen unterschiedliche Anzahl Begleitende). Falls die Person in Ausschaffungshaft war: regulär 225 Franken pro Person und Tag.

Weitere zusätzliche Kosten, die statistisch nicht aussagekräftig erhoben werden können, sind: medizinische Kosten, die Beschaffung der Reisedokumente, Personalkosten für den Migrationsdienst sowie die Begleitpersonen der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter auf Sonderflügen.

Sonja L. Bauer


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